Von Strategen und “Strategen” im Bundesrats-Wahlkrimi
Publiziert am 05. Juli 2009Am 16. September wird die Nachfolge von Bundesrat Pascal Couchepin bestimmt. Vor drei Wochen hatte er seine Demission auf Herbst bekannt gegeben. Seit Jahrzehnten ist es bei Bundesratswahlen nicht mehr vorgekommen, dass die Zeitspanne zwischen Rücktrittsankündigung und Wahltermin so lange ist.
Die Medien interpretieren täglich. In zwei Punkten herrscht Konsens:
1. Man spricht allgemein von einem Wahlkrimi
2. Der Nachfolger oder die Nachfolgerin von Couchepin wird entweder FDP- oder CVP-Mitglied sein
Viele Medienschaffenden finden zudem, dass jetzt bloss ein “Vorgeplänkel” im Gang sei. Ich halte – halbwegs – dagegen, weil diese Phase immerhin aufgezeigt hat, wer strategisch talentiert ist und wer weniger.
Die Muttersprache als wichtigstes Kriterium?
Die ersten drei Wochen dieses Wahlkrimis waren dominiert von der Frage, was ein richtiger Romand sei. FDP-Chef Fulvio Pelli hatte diese Debatte früh losgetreten. In einem Interview strich er heraus, dass der Favorit in den Reihen der CVP, Ständerat Urs Schwaller, kein Romand sei. Schwaller ist in der Tat Deutschfreiburger, allerdings ein Bilingue, der während seiner 12 Jahre als Staatsrat (Regierungsrat) fast immer Französisch sprach. Zudem: die Bevölkerung Fribourgs ist zu 75 Prozent französischsprachig, der Kanton wird deshalb als welsch betrachtet.
Diese Debatte ist brandgefährlich. Wenn die Muttersprache das wichtigste Kriterium für die Besetzung einer Schlüsselposition in diesem Land wird, ist das ein Spiel mit dem Feuer. Einer, der das in einem Aufsatz gut auf den Punkt brachte, ist Ständeratspräsident Alain Berset (Fribourg).
Ich fürchte um den Zusammenhalt (Text von Alain Berset; PDF)
Indirekt bricht Berset, einer der wenigen Charismatiker unter der Bundeshauskuppel, mit diesem Text eine Lanze für seinen Ständeratskollegen Urs Schwaller. Das ist bemerkenswert, weil Berset selber als Bundesratskandidat gilt, der dereinst Micheline Calmy-Rey beerben könnte. Wird Schwaller gewählt, sinken Bersets Chancen auf praktisch Null. Die Kantonsklausel ist zwar gefallen, zwei Vertreter aus demselben Kanton werden aber wohl nur beim demografisch klar grössten Zürich geduldet (2003 – 2007: Moritz Leuenberger/Christoph Blocher; 2008 – …. : Moritz Leuenberger/Ueli Maurer).
Schwaller ist verwundet, ein Vorteil für Pelli?
Fulvio Pellis Angriff auf Schwaller war zwar kein Blattschuss, hat den stärksten CVP-Papabili aber doch verwundet. Pelli zeigt damit ein weiteres Mal auf, dass er ein cleverer Stratege ist. Dass er es nicht nur für seine Partei bzw. den Erhalt des zweiten FDP-Sitzes tut, sondern vermutlich auch für sich selbst, steht auf einem anderen Papier. Auch in eigener Sache verhält sich Pelli geschickt, obwohl wenn er damit seine Glaubwürdigkeit untergräbt. Zwei Jahre ist es her, da nahm sich Pelli selbst aus dem Rennen, ohne dass ich ihm das damals glaubte.
Strategisch in einer anderen Liga agierte bislang Ueli Leuenberger, Präsident der Grünen. Sein Flirt mit ein paar SVP-Hinterbänklern, sekundiert von Jungstar Bastien Girod, hat sich als hochsommerlicher Furz bereits wieder verflüchtigt. Die Idee, dass die SVP im September den Grünen zu einem Bundesratssitz verhelfen sollte, um 2011 der SP einen Sitz wegzuschnappen, hat Schnitzelbangg-Potential – oder wäre Stoff für die Satiresendung Giacobbo/Müller.
Die Grünen (24 Sitze) und die SVP (65 Sitze) erreichen zusammen maximal 89 Stimmen. Das reicht nicht, um einen Bundesrat zu küren. Nebst diesem mathematischen Problem sind die inhaltlichen Differenzen zu berücksichtigen: Grüne und SVP sind sich spinnefeind, einzig bei Vorlagen des VBS kommt es vor, dass die beiden Parteien an einem Strick ziehen, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven. Die Wählerschaft beider Parteien würde ein Päckli nie goutieren.
Hüsch und Hott bei Grünen-Chef Ueli Leuenberger
Während des Flirts passierte auf dem Generalsekretariat der Grünen ein Fauxpax: Das Strategiepapier der Partei ging irrtümlich an den Medienverteiler. Eine knappe halbe Stunde später wurden die Empfänger aufgefordert, die vorherige Mail doch zu löschen, es handle sich lediglich um ein paar persönliche Gedanken. Das Hüsch und Hott fand ein vorläufiges Ende mit der Ankündigung vom 28. Juni, man strebe jetzt doch drei Sitze an – zusammen mit der SP. SP-Präsident Christian Levrat muss sich fragen, wie verlässlich der Präsident der Grünen als sein natürlicher Partner eigentlich ist.
Ueli Leuenberger hat sich ein Glaubwürdigkeitsproblem eingehandelt. Erinnert sei auch an die Bundesrats-Ersatzwahl im Dezember 2008, als der offizielle Kandidat der Grünen, Luc Recordon, von der eigenen Partei im Regen stehen gelassen wurde. Ihre Stimmen gingen bereits beim ersten Wahlgang zu einem beträchtlichen Teil an Hansjörg Walter (svp, TG).
Schliesslich: Wann wurde bislang darüber diskutiert, welche Eigenschaften der neuen Bundesrat haben muss bzw. welche Baustellen im EDI auf ihn warten?
Genau diese Baustellen würden das Profil des neuen Bundesrats definieren. Die “Arena” versuchte vor zwei Wochen, das in den Mittelpunkt der Sendung zu stellen, scheiterte aber aufgrund der Zusammensetzung im Ring. Christoph Blocher und Roger Schawinski verbissen sich alle paar Minuten in Blochers Vergangenheit.
Mark Balsiger
Ausgezeichnete Zusammenfassung!
Um den Horizont noch etwas zu erweitern:
– Die diesjährige Nationalratspräsidentin ist eine Tessinerin
– Der diejährige Ständeratspräsident ist ein Freiburger, un romand sans doute.
– Der FDP/Die Liberalen-Präsident ist ein Tessiner.
– Der SP-Präsident ist ein Freiburger, aussi un romand sans doute.
– Der CVP-Präsident ist ein Walliser, de nouveau un romand sans doute.
– Der Präsident der Grünen hat zwar auch einen deutschschweizer Hintergrund, vertritt im Parlament aber den ausschliesslich frankophonen Kanton Genf (die GenferInnen scheinen ihn deswegen trotzdem gewählt zu haben).
– Die Bundeskanzlerin, im Bündnerland aufgewachsen, spricht zwei rätoromanische Idiome.
– Von den sechs FraktionspräsidentInnen stammen deren drei aus mehrsprachigen Kantonen
Wer hat gerufen, die lateinische Schweiz wäre in wichtigen, einflussreichen Posten untervertreten?
Danke für die Ergänzungen, Titus Sprenger. Insgesamt relativiert das die insbesondere von welschen Medien stark thematisierte Stossrichtung “Es muss ein echter Romand sein”.
A propos Ueli Leuenberger: Ein typisches Beispiel, dass wer grün wählt, tief rot bekommt. Eine Recherche einer befreundeten Journalistin zeigt, dass 98 Prozent der Vorstösse Leuenbergers soziale (vor allem gewerkschaftliche) Anliegen betrafen und keine umweltpolitischen. Leuenberger ist also eine der unzähligen “Wassermelonen” seiner Partei: Aussen grün, aber innen sozialistisch rot! Umso lustiger, dass sich die Grünen mit der SP verkrachen.
Jetzt überraschen Sie mich aber, Jan Flückiger.
Ich dachte immer, die Grünliberalen wären anders, bräuchten demnach nicht über andere Politiker herzuziehen und würden sich viel lieber auf die Sache konzentrieren… Schade.
Lieber Titus Sprenger,
Sie dürfen jetzt nicht die Grünliberalen in Sippenhaft nehmen wegen meiner (zugegeben etwas polemischen) Worte. Tatsächlich wollen die Grünliberalen sich auf die Sache konzentrieren und wir beurteilen politische Lösungsvorschläge nicht nach ihrer Herkunft.
Es hat aber bei meiner Kritik durchaus eine sachliche Dimension: Nämlich die fehlende Transparenz in unserer halbdirekten Demokratie. Ich behaupte, dass viele Leute (egal ob sie links oder rechts oder grünliberal wählen) nicht wissen, wofür sich ihre Volksvertreter tatsächlich einsetzen.
Das Beispiel von Ueli Leuenberger und den Grünen ist symptomatisch. Wie viele Leute wissen, dass sie vor allem gewerkschaftliche Positionen stärken, wenn sie Herrn Leuenberger bzw. die Grünen wählen. Gerade viele Junge würden sich sonst zweimal überlegen, ob sie z.B. wirklich eine Rentenpolitik auf Kosten der jungen Generation unterstützen wollen.
Natürlich ist das nicht primär ein Problem von Herrn Leuenberger, sondern eine Mischung aus unserem politischen System, fehlender Information seitens der Medien und fehlendem Interesse seitens der Bürger.
Allerdings finde ich es schon fragwürdig, wenn ein flammender Vertreter von sozialistischen Positionen, der sich vor allem für gewerkschaftliche Anliegen stark macht, Präsident der “Grünen” Partei sein kann, die sich ja gegen aussen vor allem über ihren Einsatz für die Umwelt definiert. Andererseits müsste ich als Grünliberaler ja froh sein, dass die Grünen die SP links überholen, das wird noch mehr realistisch denkende Leute dazu bringen, uns zu wählen.
‘@ Jan Flückiger
Ich sehe das nicht so eng, da jede Partei ihre «Spezialisten» hat. Ein Wirtschaftspolitiker der SP muss deswegen ja nicht gleich zur FDP wechseln…
Als diplomierter Sozialarbeiter scheint es mir legitim, dass Leuenberger «der Mann fürs Soziale» seitens der Grünen ist. Schliesslich sass er bis Mitte November letzten Jahres auch in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Wenn Sie sich seine 74 eingereichten Vorstösse anschauen, werden Sie bald feststellen, dass zwar vieles «Nicht-Grünes» dabei ist, aber bei weitem nicht etwa gewerkschaftlich orientiert.
Wenn Sie schon dabei sind, seine parlamentarische Geschichte nachzuschlagen, können Sie ja auch gleich noch jene von Urs Schwaller anschauen – um so wieder aufs eigentliche Thema zurückzukommen.
Qualifiziert ihn sein Präsidium der ständerätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit ausreichend, um möglicher zukünftiger Gesundheitsminister zu werden? Wäre er, unter Berücksichtigung seiner eingereichten Vorstösse, nicht ein besserer Finanzminister? Würde die CVP nicht besser Zuwarten, bis der Finanzminister, auch ein FDP-Mann, zurücktritt, damit Urs Schwaller den Deutschschweizer Hans-Rudolf Merz ablösen könnte?
Ja, das sind berechtigte Fragen. Ich werde hier meine persönliche Meinung zum Kandidatenkarussell nicht kund tun. Ich verweise nur auf meine Präferenz für mindestens einen Nicht-Politiker (also z.B. Wissenschaftler oder Unternehmer) im Bundesrat, die ich an anderer Stelle im Wahlkampfblog schon erwähnt habe.
[…] Fribourger Ständerat Urs Schwaller. Bloss haftet an ihm der Makel, kein echter Romand zu sein bzw. nicht französisch zu träumen. Solange er nicht klar Farbe bekennt, halten sich alle anderen möglichen Kandidaten […]
[…] ein: Er hat Schwaller kurz nach der Rücktrittsankündigung von Bundesrat Pascal Couchepin mit seiner Sprachen-Attacke schwer verwundet. Wenn Pelli nun Schwallers letzter Gegenspieler werden sollte, baut er diesen […]