Werner Seitz zu den Bieler Wahlen: “Eine achtköpfige Regierung ist reichlich gross”

Publiziert am 29. September 2008

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Biel hat gestern gewählt. In der Exekutive löst Barbara Schwickert (grüne) den langjährigen Polizeidirektor Jürg Scherrer (Freiheitspartei) ab. Unter den vier vollamtlichen Mitgliedern ist das Gewichtsverhältnis damit neu 3 Rot-Grün zu 1 Bürgerlichen. Bei den nebenamtlichen Exekutivmitgliedern bleibt es bei 2 zu 2. Bei den Parlamentswahlen sind die Grünliberalen die klaren Sieger, die Freiheitspartei verliert vier Sitze.

Ein ausgewiesener Kenner der Politik und der Wahlen im Kanton Bern ist Werner Seitz. Der bekannte Berner Politologe hat für das Wahlkampfblog und im Wahlbistro eine Einschätzung der Bieler Wahlergebnisse vorgenommen.

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Werner Seitz, die Freiheitspartei hat vier Sitze verloren. Liegt das vor allem daran, dass ihr langjähriges Aushängeschild Jürg Scherrer in den Ruhestand geht oder steht diese Partei nun auch in Biel vor dem Aus?

Werner Seitz: Ich vermutet beides: Die Freiheitspartei (FP) besteht ja als nationale Partei seit der Jahrtausendwende nur noch in wenigen Regionen, und Biel war mit Jürg Scherrer die letzte FP-Hochburg. Nach diesem Wahlergebnis erwarte ich, dass die FP Biel den Weg der anderen Sektionen gehen wird: Entweder in der SVP aufgehen, die das FP-Gedankengut schon längere Zeit vertritt, oder marginalisiert weiter politisieren.

Die Grünliberalen holten auf Anhieb vier Sitze. Nach dem Durchmarsch im Kanton Zürich im letzten Jahr und unlängst in Basel-Stadt wiederholt sich ihr Erfolg erneut. Weshalb?

Die Grünliberalen haben dieses Jahr auch bei den kantonalen Wahlen in St. Gallen und im Thurgau gepunktet – also, überall, wo sie bisher kandidierten. Als neue Kraft mit mehrheitlich jungen Menschen, die mit den beiden Labels „ökologisch“ und „liberal“ die Politbühne betreten, sind sie zur Zeit zweifelsohne attraktiv. Mir fehlt jedoch noch die programmatische Tiefe. Ihre Stimmen machen die Grünliberalen – per saldo – nicht auf Kosten der Grünen. Sie stehen ihnen aber sicher etwas vor der Sonne. Wie die Bieler Panaschierstatistik zeigt, grasen die Grünliberalen nämlich auch im linksgrünen Segment. Aber da gibt es wohl grössere regionale Unterschiede.

Im Parlament haben die rot-grünen Parteien (ohne Grünliberale) mit 31 von 60 Sitzen nur eine hauchdünne Mehrheit. Wie wirkt sich das auf die Arbeit der nächsten vier Jahre aus?

Ich verstehe mich als Zaungast der Bieler Politik. Was ich aber mitbekommen habe ist, dass gerade in Biel keine knüppelharte Blockpolitik betrieben wurde. Ich gehe zudem davon aus, dass jede vernünftige und demokratische Politik darauf abzielt, nicht nur mit der eigenen Partei zu politisieren, sondern für bestimmte Vorlagen auch bestimmte Allianzen mit der einen oder anderen Partei einzugehen. Das können in Biel je nach Thema etwa die EVP, CVP, GLP oder die FDP sein.

Bei den Exekutivwahlen gab einen Links-Rutsch, Barbara Schwickert (grüne) ersetzt Jürg Scherrer (Freiheitspartei). Damit liegen die Mehrheitsverhältnisse bei 5 Rot-Grünen zu 3 Bürgerlichen, zuvor war es 4 zu 4. Rechnen Sie nun mit einem prononcierten Linkskurs der Bieler Regierung?

Mit der Einrichtung des Stichentscheids des Präsidenten hat es in Biel schon vergangene Legislatur eine Linksmehrheit gegeben. Barbara Schwickert aber wird sicher die ökologische und feministische Sichtweise verstärken.

Das „Bieler Modell“ der Exekutive ist ein Unikum: Es gibt 4 vollamtliche und 4 nebenamtliche Mitglieder. Die Nebenamtlichen mit einem Pensum von je 15 Prozent haben kein Ressort, sondern lediglich ein Mitsprache- und Stimmrecht. Ist ein Systemwechsel angezeigt, beispielsweise auf 5 vollamtliche Mitglieder?

Dieses Modell kam auch in den beiden anderen mittelgrossen Berner Städten Thun und Köniz zur Anwendung. Thun hat es vor einigen Jahren abgeschafft, in Köniz regieren immer noch drei Exekutivmitglieder im Vollamt und vier im Nebenamt. Eine achtköpfige Regierung für eine Stadt wie Biel mit 50’000 Einwohnern scheint mir reichlich gross. Die Präzisierung, dass nur vier voll regieren, lässt in mir die Frage aufkommen, wie sich die vier Nebenamtlichen denn überhaupt argumentativ in die Regierungsgeschäfte einbringen können. Zudem verkompliziert dieses Modell das Wahlsystem, das schon anspruchsvoll genug ist.

Eine andere Spezialität, die im Kanton Bern vielerorts zum Tragen kommt, ist das Proporzsystem bei Exekutivwahlen. In Biel kandidierten nicht weniger als 37 Personen für die Stadtregierung, die allermeisten ohne den Hauch einer Chance. Ausserhalb des Kantons Bern werden die meisten Exekutiven im Majorzwahlsystem bestimmt. Was spricht für die Beibehaltung des Proporzsystems?

Über den Daumen gepeilt werden in der Schweiz gut ein Drittel aller Gemeinderegierungen nach Proporz gewählt. In Zug und im Tessin gilt das Proporzsystem gar für die Wahl in die Kantonsregierung. Für den Proporz bei Exekutivwahlen spricht, dass er den kleineren Parteien grössere Wahlchancen gibt und so integrativ wirkt. Ein reines Majorzsystem gibt es übrigens wohl nirgendwo in der Schweiz: Meistens üben die grössten Parteien einen „freiwilligen Proporz“, was ja auch wieder Fragen aufwirft.

Auguren wie Kandidierende sagen dasselbe: Es gab in Biel kaum Wahlkampfthemen. Geht es den Menschen schlicht zu gut, um mobilisiert zu werden oder sind die Parteien zu schwach, um echte Debatten zu lancieren?

Die Debatte müsste natürlich von den bürgerlichen Herausforderern lanciert werden, und diese haben es seit einiger Zeit in den zumeist von Rot-grün regierten Städten schwer, sich mehrheitsfähig einzubringen. In Biel dürfte zudem bis vor Kurzem eine wichtige politische Trennlinie zwischen rot-grün-bürgerlich und den Rechtsaussen um Jürg Scherrer gegangen sein. Mit dem Rücktritt von Jürg Scherrer ist diese obsolet geworden, was sich auch in der sehr niedrigen Wahlbeteiligung von nicht einmal 30 Prozent zeigt.

Können Sie aus den Ergebnissen in Biel und vor zwei Wochen in Basel-Stadt einen Trend für die Wahlen in Bern von Ende November herauslesen?

Kommunale Wahlen können auch ihre eigenen Themen haben. Aufgrund der jüngsten Wahlen und der Nationalratswahlen vom vergangenen Herbst erwarte ich aber in Bern die SP auf der Verliererseite. Zulegen dürften die Grünen insgesamt. Dabei wird es namentlich interessieren, wie die neu gegründeten Grünliberalen abschneiden und auf Kosten von wem. Gerade in Bern dürfte dies kein Spaziergang werden, wird das von der GLP angepeilte Segment doch seit Jahren von der GFL besetzt.

Interview: Mark Balsiger

Foto Werner Seitz: www.werner-seitz.ch

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