Bundesrat Ueli Maurer geht – wer kommt? Eine erste Auslegeordnung

 

In den letzten Tagen hat die Gerüchtebörse einen Rücktritt von Alain Berset hoch gehandelt. Schliesslich ist es aber Ueli Maurer, der auf Ende Jahr aus dem Bundesrat zurücktritt und damit nochmals alle narrte. Dannzumal hat er genau 14 Jahre in diesem Gremium hinter sich.

Die Ersatzwahl wird am 7. Dezember stattfinden. Wie immer nach Rücktrittsankündigungen beginnt sich sofort das Nachfolgekarussell zu drehen.

Zunächst die drei wichtigsten Voraussetzungen für eine Wahl in den Bundesrat (was ja per se endlich eine Diskussion anzetteln sollte):

– das richtige Parteibuch;
– geografische Herkunft (Sprachregion bzw. Kanton);
– beliebt oder zumindest respektiert beim Wahlgremium, also bei den 246 Mitgliedern der eidgenössischen Bundesversammlung.

Es steht ausser Frage, dass ein SVP-Mitglied Maurers Nachfolge antreten wird. Diese Partei ist mit Abstand die wählerstärkste, ein Jahr vor den eidgenössischen Wahlen wird niemand ernsthaft ein Störmanöver riskieren.

Weil die lateinische Schweiz zurzeit mit drei Bundesräten vertreten ist (Berset, Parmelin und Cassis), können wir davon ausgehen, dass das neuste Mitglied der Landesregierung aus der deutschen Schweiz kommt.

Die Kantonsklausel ist 1999, bei der letzten Revision der Bundesverfassung, gefallen. Seither ist es möglich, dass mehrere Mitglieder während derselben Phase aus demselben Kanton stammen. Zwischenhindurch ist das bereits passierte mit Maurer und Moritz Leuenberger, Zürich (2009/2010), sowie mit Johann Schneider-Ammann und Simonetta Sommaruga, Bern (2010 – 2018).

Das Wahlgremium zieht Kandidatinnen und Kandidaten vor, die es kennt. Das spricht für jemanden aus dem National- oder Ständerat.

Die SVP ist zweifellos clever genug, jetzt ein Schaulaufen zu inszenieren. Davon profitiert sie und die Leute, die sich vorübergehend ins Schaufenster stellen, obwohl einige davon gar nicht gewählt werden wollen.

Namen, die in den letzten Stunden gefallen sind, notabene sind alle aus dem Nationalrat:

– Albert Rösti, Bern
– Gregor Rutz, Zürich
– Franz Grütter, Luzern
– Esther Friedli, St. Gallen
– Diana Gutjahr, Thurgau
– Monika Rüegger, Obwalden

Gehandelt wird des Weiteren Natalie Rickli. Dass sie kandidieren wird, halte ich für ausgeschlossen, weil sie als Zürcher Regierungsrätin längst auf dem Ticket ist für die Wiederwahl am 12. Februar 2023. Würde sie den Sprung in die Landesregierung versuchen, käme ihre Kantonalpartei in eine unmögliche Situation.

Wer womöglich noch in den Reigen der Papabile kommt, ist Ständerat Jakob Stark aus dem Thurgau, ein Gemässigter mit langjähriger Erfahrung in einer Kantonsregierung. Heute Nachmittag fiel auch der Name des ehemaligen Parteipräsidenten Toni Brunner (Toggenburg/SG).

Zur Kategorie «kaum mehrheitsfähig» zählen Magdalena Martullo-Blocher – sie hat inzwischen bereits abgesagt (Nachtrag von 18 Uhr) -, Roger Köppel und Fraktionschef Thomas Aeschi. Letzterer war 2015 der Favorit seiner Fraktion, das Rennen machte dann allerdings Guy Parmelin, weil ihn die Vereinigte Bundesversammlung sympathischer fand.

Abschliessend zwei Kernsätze, die zur Dynamik, die nach Rücktrittsankündigungen immer aufkommt, gelten:

-Wer sich zu früh bewegt, d.h. öffentlich Interesse für das Amt bekundet, verglüht. (Pascal Couchepin war 1998 eine der wenigen Ausnahmen.)
– Nie wird mehr gelogen als vor Bundesratswahlen.

Bei «20 Minuten» konnte ich das Thema in einem Live-Interview vertiefen – und spekulieren – volle 16 Minuten lang.

Foto Ueli Maurer: Keystone SDA

Cassis’ Fehltritt auf der Weltbühne

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Dieses Sprichwort drängt sich auf, um den jüngsten Fall von Bundespräsident Ignazio Cassis zu gewichten.

Es ist wertvoll, dass Cassis während der UNO-Generalversammlung den russischen Aussenminister Sergej Lawrow zu einem Gespräch traf. Auch wenn die Erfolgschancen im Promillebereich liegen, soll sich die offizielle Schweiz immer darum bemühen, ihre Guten Dienste anzubieten. So wie sie seit Langem erfolgreich den Austausch zwischen den USA und Iran sowie den USA und Kuba ermöglicht.

Das Foto, das seit gestern Mittwoch in den (sozialen) Medien kursiert, zeigt Lawrow und Cassis beim Händeschütteln. Beide blicken in die Kamera. Die Suggestivkraft von Bildern ist enorm. Es erstaunt deshalb nicht, dass das russische Aussenministerium dieses Foto via Twitter verbreitete (siehe Printscreen oben). Die Botschaft ist zu gut, um sie nicht für Propagandazwecke zu nutzen. Der Aussenminister der Schweiz rehabilitiert eine der Schlüsselfiguren Russlands, und das just am Tag an dem Wladimir Putin eine Teilmobilmachung befohlen hat.

Dumm gelaufen.

Es ist weit mehr als das, und deshalb treffen kritische Worte wie «unsensibel» und «ungeschickt» daneben.

Cassis ist Lawrow in die Falle getappt, wie ich im Interview mit dem Online-Portal «Blue News» ausführe (nachträglich eingefügt).

Ich arbeitete 1996/97 in Bosnien, also direkt nach dem Krieg dort, und zwar im Hauptgebäude der OSZE-Mission in Sarajevo. Es kam regelmässig zu Treffen zwischen Diplomaten, Spitzenpolitikerinnen und mutmasslichen Kriegsverbrechern. Es galt, sich jeweils im Vorfeld gut zu überlegen, welche Bilder man ermöglichen wollte. Mit den Handys konnte man damals keine Fotos machen, Social Media existierten noch gar nicht. Es war einfacher als heute, aber immer noch knifflig.

Doch zurück zur UNO. An ihren Anlässen sind stets Fotografen zugegen, die in der Regel zu Beginn auf den Auslöser drücken dürfen. Das ist Standard.

Selbstverständlich darf Cassis Lawrow die Hand geben. Es macht aber einen himmelweiten Unterschied, ob er dabei für einen Fotografen händeschüttelnd posiert oder dem Russen für ein paar Sekunden die Hand gibt, ihm entschlossen ins Gesicht blickt und sich von der Seite ablichten lässt.

Es ist die Aufgabe von Cassis’ Beraterstab, im Vorfeld jede Eventualität und jedes Risiko zu antizipieren und den Chef darauf vorzubereiten. Womöglich hat er das nicht getan. Oder er hat es getan, aber der Aussenminister reagierte im entscheidenden Moment falsch.

Cassis bemüht sich seit Jahren, als Macher wahrgenommen zu werden und an Statur zu gewinnen. Dabei unterlaufen ihm immer mal wieder kommunikative Fehler. Im vorliegenden Fall wollte er gestärkt von der Weltbühne New York in die Schweiz zurückkehren. Er, der sich mit entschlossenem Blick an einen Tisch mit Lawrow zeigt (siehe unten). Wegen seines Fehltritts bleibt uns freilich das «Handshake»-Foto in Erinnerung.


Nachtrag:

Was ich der Nachrichtensendung «Telegiornale» von RSI zum Thema sagte.

– Komplett anderer Meinung ist Alt-Bundesrat Pascal Couchepin: Er findet die Kritik an Cassis «lächerlich», wie er gegenüber der «Tagesschau» von SRF sagte.

Die Schweizer Demokratie besteht den Stresstest

Demokratie ist anspruchsvoll. Die Leute, die in der Schweiz stimmberechtigt sind, können bei jeder Vorlage abwägen: Sie haben rationale, emotionale, persönliche und übergeordnete Argumente zur Auswahl.

Demokratie ist anstrengend, wenn der Abstimmungskampf laut, irrational und hysterisch geführt wird. Das war beim Covid-19-Gesetz ausgeprägt der Fall. Während Monaten lag der Fokus bei den Gegnern, ihrer Wut und ihrem Egoismus. Jeder Pups wurde verstärkt und tönte alsbald wie ein Donnergrollen.

Es ist umso bemerkenswerter, wie abgeklärt eine stille Mehrheit dem Covid-19-Gesetz zustimmte. Der Ja-Anteil beträgt 62 Prozent, liegt also noch etwas höher als beim ersten Referendum im Juni, als er 60.2 Prozent erreichte. Stimmten damals noch acht Kantone Nein, trifft das dieses Mal nur noch auf Schwyz und Appenzell Innerrhoden zu. Von einer Ausnahme abgesehen kippten also die Ur-Kantone von einem Nein im Juni zu einem Ja im November.

Eine deutliche Mehrheit der Stimmberechtigten entschied sich für ein Ja aus Vernunft, rationale und übergeordnete Argumente hat sie höher gewichtet. Es geht ihr um einen gemeinsamen Weg aus der Pandemie. Die Stimmbeteiligung kletterte auf 65.7 Prozent, den vierthöchsten Wert seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971, was das Resultat noch stärker abstützt.

Eine deutliche Mehrheit glaubt daran, dass mit einer gesetzlichen Grundlage, mit Impfen statt Schimpfen und einem Covid-Zertifikat die Basis gelegt wird, um die Pandemie zurückzudrängen und schliesslich zu kontrollieren. Die Coronapolitik der Behörden wurde zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten direktdemokratisch legitimiert, die Schweizer Demokratie hat einen Stresstest bestanden.

Dass das Krisenmanagement von Bund und Kantonen keine guten Noten verdient, steht auf einem anderen Blatt Papier.

Es hat Tradition, dass Entscheidungen an der Urne respektiert werden. Dass nun eine junge Organisation das Abstimmungsergebnis als «nicht legitim und für uns nicht bindend» bezeichnet, zeigt auf, wie masslos und unschweizerisch sie ist.

Trotz allem ist es wichtig, dass die Verlierer von heute nicht ausgegrenzt werden. Längst nicht alle, die Nein stimmten, sind Corona-Leugnerinnen und Verschwörungstheoretiker. Unsere Gesellschaft muss die Kraft und den Willen haben, sich zusammenzurotten und den Feind zu bekämpfen. Der Feind ist das Virus.

Wie das Ja zum CO2-Gesetz vergeigt wurde

Am «Super Sunday» im Herbst letzten Jahres triumphierte die urban-fortschrittliche Schweiz: Nein zur Kündigungsinitiative und zum Jagdgesetz, Ja zum Vaterschaftsurlaub. Heute war die ländlich-konservative Schweiz an der Reihe und versenkte die beiden Agrarinitiativen und das CO2-Gesetz. Letzteres ist bitter und selbstverschuldet. Der breiten Ja-Allianz, die vom WWF bis zum TCS und von den Grünen bis zu economiesuisse reichte, fehlten strategisches Geschick und Leidenschaft. Ein Abstimmungskommentar. 

Das Nein zum CO2-Gesetz brennt wie eine Ohrfeige. Es ist ein Desaster für Bundesrat und Parlament. Jetzt die laute und irreführende Kampagne der Gegner als Grund ins Feld zu führen, wäre billig. Die grossen Fehler unterliefen nämlich der breiten Ja-Allianz. Ich erwähne sechs Gründe, die zum Nein führten.

Die Terminierung:
Der Bundesrat hat Spielraum, welche Vorlage an welchem Tag zur Abstimmung kommt. Die beiden Agrarinitiativen auf denselben Tag wie das CO2-Gesetz festzulegen, war ein kapitaler strategischer Fehler. Weshalb? Beide Initiativen waren von Anfang an chancenlos, auch weil sie schlecht formuliert sind. Dass sie die ländlich-konservative Schweiz weit überdurchschnittlich mobilisieren, war klar. Der Bauernstand ist dort gut verwurzelt, mental stehen wir ihm nahe. Die Agrarinitiativen wurden auf dem Land (und in der Agglomeration) geschickt mit dem CO2-Gesetz verzurrt. Daraus bildete sich ein kompakter Nein-Block zu diesem «Zeugs aus der links-grünen Ecke».

Die Bundesrätin:
Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Landesregierung hat Simonetta Sommaruga einen Kompass. Sie weiss, was sie will und sie arbeitet hart dafür, diese Ziele auch zu erreichen. Seit Langem war klar, dass die Abstimmung über das CO2-Gesetz in der bürgerlichen Mitte und von den Parteiunabhängigen entschieden wird. Eine Bundesrätin der FDP oder der Mitte (ex CVP bzw. BDP) hätte mit dieser Vorlage weniger Abwehrreflexe ausgelöst als SP-Umweltministerin Sommaruga.

Die Klimajugend:
Anfang 2019 hatte es die Klimajugend geschafft, die Klimakrise zum Thema Nummer 1 zu machen, was die Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit und damit die Wahlen im Herbst desselben Jahres stark beeinflusste. Nachdem das Parlament im Herbst 2020 das komplett revidierte CO2-Gesetz mit überwältigendem Mehr guthiess, sprangen beim Referendum allerdings ein paar Regionalsektionen der Klimajugend auf. Dies, weil ihnen das Gesetz zu wenig weit geht. Sie machten sich damit zu nützlichen Idiotinnen von SVP, Hauseigentümerverband (HEV), Automobil Club der Schweiz (ACS), Auto Schweiz und Avenergy (vormals Erdölvereinigung). Für Behördenvorlagen ist ein Zangengriff – von rechts und links – Gift.

Am 21. Mai fand der internationale Aktionstag «Strike for Future» statt, also drei Wochen vor der Abstimmung. In der Schweiz konnte er an rund 100 verschiedenen Veranstaltungen 30’000 Menschen mobilisieren. Sie demonstrierten und disktutierten für eine bessere Welt. Im Manifest findet man aber keinen Hinweis auf die bevorstehende Abstimmung zum CO2-Gesetz. Institutionelle Politik mag langsam, abgeschliffen und langweilig sein, bislang ist es der einzige Weg, um Veränderungen in Gesetze und die Bundesverfassung zu schreiben. Die Klimajugend fordert nicht nur viel mehr Tempo beim Klimawandel, sondern auch einen radikalen Umbau der Gesellschaft. Das ist legitim, bloss muss sie sich jetzt vorwerfen lassen, zu wenig für ein Ja getan zu haben, ja dem Klima gar einen Bärendienst erwiesen zu haben.

Die FDP:
Im Dezember 2018 war die FDP-Fraktion dafür verantwortlich, dass das erste CO2-Gesetz im Parlament abstürzte. Ein Aufschrei ging durch das Land, was der Kabarettist Michael Elsener flugs in einen Slogan goss: «FDP – Fuck the Planet.» Während der Tür-zu-Tür-Befragung der freisinnigen Basis im Frühjahr 2019 wurde Parteipräsidentin Petra Gössi bewusst, dass der Klimawandel enorm bewegt. Es folgte die Kurskorrektur: Während des Wahljahres verpasste sich die FDP, von den Delegierten abgesegnet, einen grünen Anstrich.

Das neue CO2-Gesetz ist umfassend und reglementiert in Teilen staatlich, kommt aber ohne Verbote aus. Vielmehr setzt es auf Anreize, Lenkungsabgaben und das Verursacherprinzip. Umfragen zeigen, dass die Basis des Freisinns bis am Schluss skeptisch blieb. Bloss mit einem «Fifty-fifty» der FDP war diese Abstimmung kaum zu gewinnen.

Die Kampagnen:
Mehreren Komitees standen mehrere Millionen Franken für ein Ja zur Verfügung. Die Absprachen innerhalb des Ja-Lagers waren ungenügend, den Kampagnen fehlte die Leidenschaft.

Stringente Kampagnen entstehen, wenn auf Basis von Meinungsumfragen und Fokusgruppen die besten Argumente herausgefiltert werden. Diese werden dann während Monaten mit einer überzeugenden Bildsprache vermittelt. Das blieb aus. Vielmehr wurde der Bevölkerung ein buntes Potpourri mit x verschiedenen Argumenten serviert, was zu Irritationen führte. Als der Fokus der Abstimmung schliesslich bei den Kosten angelangt war, war es zu spät. So hatte sich beispielsweise die Mär, dass die Landbevölkerung geschröpft wird, festgesetzt.

Die Kosten:
Die Strippenzieher im Hintergrund glaubten lange Zeit, dass diese austarierte Vorlage problemlos durchkommt. Die Allianz ist breit, die SVP von der Rolle, so glaubten sie. Dabei gab es drei Warnschüsse: In den Kantonen Solothurn, Bern und Aargau wurden in den letzten Jahren die kantonalen Energiegesetze abgelehnt: zweimal äusserst knapp (BE: 50.6%, AG: 50.9% Nein) einmal sehr deutlich (SO: 70.5% Nein). Von diesen Abstimmungsniederlagen hätte man lernen müssen, dass es in der Umsetzung, wenn es um die Kosten geht, eng wird. Man hätte darauf vorbereitet sein müssen, denn: Energiethemen und Klimaschutz werden vom Volk gleich beurteilt.

Fazit:
Für 51.6 Prozent der Stimmenden* liegt der eigene Geldbeutel näher als ein solides CO2-Gesetz. Die bittere Erkenntnis dieses Abstimmungssonntags kennt die Politikwissenschaft schon lange: Der Ansatz nennt sich «Rational Choice». Allerdings war es eine Niederlage mit Ansage. Das Ja-Lager hat diese Abstimmung am Anfang zu wenig ernst genommen und schliesslich vergeigt. Bedenklich ist, dass damit einmal mehr eine Behördenvorlage scheiterte. Bis der dritte Entwurf eines CO2-Gesetzes vorliegen wird, verstreicht wieder wertvolle Zeit. Industrie und Wirtschaft traue ich zu, die Klimaziele zu erreichen. Beim Verkehr hingegen sieht es düster aus.

 

* Die Differenz Nein/Ja liegt bei 103’114 Stimmen. Die Stimmbeteiligung ist mit 59.7 Prozent sehr hoch.

Nachtrag am Abstimmungssonntag von 16.30 Uhr:
Der hochgeschätzte Politbeobachter Claudio Kuster brachte auf Twitter eben einen siebten Grund ins Spiel: Hätten sich SP, Grüne, Junge GLP und Operation Libero ebenso engagiert für das CO2-Gesetz engagiert, wie gegen das «vergleichweise belanglose» PMT-Gesetz, wäre es anders ausgegangen.

Nachtrag vom 14. Juni 2021:
Das Politologen-Duo LeeWas macht schon seit Jahren Nachabstimmungsbefragungen. Ihr Befund zum CO2-Gesetz kommt überraschend: 58 Prozent der 18- bis 34-Jährigen, zuweilen auch Generation Easyjet genannt, lehnten das Gesetz ab. Der höchste Ja-Anteil wiederum kommt von den Altersgruppe der über 65-Jährigen (mit 54 Prozent). Der komplette Bericht ist hier als PDF verlinkt.

Die Grafik aus den Tamedia-Zeitungen:

Es wäre der falsche Weg, jetzt ein Zeichen zu setzen

Das Leben normalisiert sich schrittweise, an Tischgesprächen geht es inzwischen wieder um Ferienpläne, Tinder und Kinder, die zahnen. Omnipräsent bleibt aber die Pandemie, die vorübergehend alles auf den Kopf gestellt hatte.

Am nächsten Sonntag stimmen wir über das Covid-19-Gesetz ab, das im Schatten der anderen vier Vorlagen steht. Wichtig ist es trotzdem, insbesondere wegen den Finanzhilfen für Künstlerinnen, Selbständige und Leute mit bescheidenen Einkommen.

Der Bundesrat managt die Corona-Krise seit Frühjahr 2020 auf Basis von Epidemiengesetz und Notrecht, das jeweils auf sechs Monate befristet ist. Das Parlament wiederum hat im letzten Herbst das neue Covid-19-Gesetz gutgeheissen und als dringlich erklärt, d.h. es ist seither in Kraft.

Mehrere Gruppierungen ergriffen das Referendum, weil ihnen die Macht des Bundesrats, die Verschuldung oder die Art der Pandemiebekämpfung missfällt. Deswegen können wir über das Covid-19-Gesetz abstimmen, und das ist gut so.

Das neue Gesetz verknüpft Teile, die nichts miteinander zu tun haben, zu einem Flickenteppich. Das entspricht nicht der reinen Lehre (hier die Einheit der Materie), aber erstens bleiben die politischen Rechte gewährleistet und, zweitens, ist die Schweiz noch immer in einer anspruchsvollen Lage.

Das Gesetz liefert die Basis, um Unternehmungen, Selbständige und Arbeitnehmer finanziell zu unterstützen. So sind beispielsweise die Kurzarbeitsgelder für schlecht Verdienende geregelt: Angestellte, die einen Monatslohn bis 3470 Franken haben, erhalten 100 Prozent ausbezahlt statt der üblichen 80 Prozent.

Die Vorgeschichte dieser Abstimmungsvorlage ist kurios und in der Schweizer Geschichte seit 1848 noch nie vorgekommen. Bei einem Nein würden die Finanzhilfen noch bis am 25. September weiterlaufen (ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes). Doch danach gäbe es eine Lücke. Bestehende Gesetze müssten stattdessen revidiert und dem Referendum unterstellt werden, um dasselbe Ziel zu erreichen. Wertvolle Zeit würde verstreichen, die finanzielle Unterstützung wäre vorübergehend blockiert, was zu tiefem Frust, Arbeitslosigkeit und Konkursen führte.

Unlängst an einem Tischgespräch, das sich um die Pandemie und das Covid-19-Gesetz drehte, bekannte jemand, Nein zu stimmen. «Damit will ich ein Zeichen setzen!», erklärte diese Person.

Es ist in der Tat so, dass der Bundesrat und die Kantone längst nicht alles richtig gemacht haben in den letzten 15 Monaten. Trotzdem mahne ich zur Vorsicht: Beim Abstimmen helfen Kopf und Herz deutlich zuverlässiger als negative Emotionen. Das gilt auch beim Covid-19-Gesetz.

Wer mehr Information möchte – seitens des Bundes und des Nein-Lagers:

Dossier des Bundes
Komitee «Covid-Gesetz Nein» (Freunde der Verfassung)

Virus-Kreation: Steven Götz, Bern. 

So wird der Bundesrat zum Bittsteller

Das nationale Parlament stimmt laufend über Kleinkram ab, das Schweizer Volk tut dasselbe regelmässig. Aber ausgerechnet beim seit Jahren wichtigsten Thema, dem Rahmenabkommen, können weder das Parlament noch das Volk mitreden, und auch die Kantone bleiben aussen vor. Das ist ein Affront.

Der Bundesrat hat gestern entschieden, die Verhandlungen mit der EU abzubrechen. Diese Entscheidung kommt nicht überraschend, die Art und Weise ist allerdings brüsk. Der Bundesrat schlägt die Türe ohne Not zu. Das hat einen Vertrauensverlust und eine Verhärtung zur Folge.

Eine Volksabstimmung über das Rahmenabkommen sei nicht zu gewinnen, behauptet ein vielstimmiger Chor seit Jahren. Viele Sänger behaupteten das bereits, als die Verhandlungen noch im Gange waren. Andere wiederum machen seit Langem Stimmung gegen das Rahmenabkommen, ohne sich darum zu kümmern, was in diesem 30 Seiten umfassenden Vertrag steht. Wer es als tauglich bezeichnet, wird als «EU-Turbo» etikettiert. Das Niveau der Debatte: jämmerlich.

Tatsache ist, dass das Volk in den letzten 20 Jahren 12 Mal für ein geregeltes Verhältnis mit der EU gestimmt hat, vom Ja zu den Bilateralen I im Mai 2000 (67.2 Prozent) bis zum Nein zur Begrenzungsinitiative im September 2020 (61.7 Prozent). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten hat ein pragmatisches Verhältnis zu europapolitischen Vorlagen entwickelt, sie anerkennen die vielen Vorteile und blenden die Nachteile nicht aus.

Inzwischen existieren rund 140 verschiedene bilaterale Verträge zwischen der Schweiz und der EU. Das Rahmenabkommen hätte fünf Verträge und alle künftigen tangiert. Angesichts solcher Zahlen ist es unverfroren, von einem «Unterwerfungsvertrag» zu reden. Die EU und die Schweiz pflegen unterschiedliche Traditionen, wie sie Streitpunkte klären. «Brüssel» tut es juristisch, die Schweiz politisch.

Der Bundesrat hat also den roten Knopf gedrückt. Seit 2008, als die einheitliche Rechtsauslegung erstmals auf Tapet kam, hat er es nicht geschafft, in der Europapolitik eine Strategie zu entwickeln. Stets waren drei oder sogar vier verschiedene Positionen am Bundesratstisch vertreten. Die Landesregierung besteht aus sieben Einzelkämpfern, die Angst vor Abstimmungsniederlagen und der eigenen Abwahl haben. Was klar ist:

1.)  Es gibt keine neuen bilateralen Verträge mehr, die alten setzen Rost an. So bleibt beispielsweise das seit Langem geplante Stromabkommen liegen, der Wirtschaftsstandort Schweiz verliert schleichend an Attraktivität.

2.)  Wenn irgendeinmal wieder Bewegung in das Verhältnis Schweiz-EU kommen soll, muss der Bundesrat den ersten Schritt machen. Er tritt dann als Bittsteller in Brüssel auf. Diese Position wird ungleich schwächer sein, als diejenige, die er in den letzten Jahren hatte. Ob das dereinst als «Reset» bezeichnet werden kann, ist offen.

3.)  Das Narrativ «souverän seit 1291» ist in unserem Land weiterhin ungemein stark. Nicht die drei Eidgenossen haben die Neutralität der Schweiz erfunden, sondern der Wiener Kongress 1815. (Ein Schweizer sass damals übrigens nicht am Verhandlungstisch.)

Wichtig wäre jetzt, dass man die europäische Idee wieder in den Vordergrund rückt. (Mit «EU-Turbo» hat das nichts zu tun.) Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich zusammen mit der Wirtschaft und der Forschung zu einer soliden Allianz formieren, könnten eine ernsthafte Debatte anstossen und so eine Deblockierung der Europapolitik erreichen.


Ergänzende Leseempfehlung:

– Das Interview in der NZZ vom 26. Mai 2021 mit Historiker André Holenstein und Europarechter Thomas Cottier – hier als PDF verlinkt.
Holenstein und Cottier über die Souveränität der Schweiz (PDF)

– Das Interview in den Tamedia-Zeitungen vom 29. Mai mit Historiker Thomas Maissen:
«Die Eidgenossenschaft hat sich fürs Durchwursteln entschieden» (PDF)

Die Zeitungsente, die alle aufgeschreckt hat

Ein Blick in die Schweizer Mediendatenbank zeigt: Seit dem 1. Januar 2020 wurden rund 352’000 Artikel zum Thema «Coronavirus» referenziert. Im Durchschnitt sind das 800 Artikel pro Tag, die in Wellen über uns hinwegrollen. Einige sind von Bedeutung, andere schon Stunden nach ihrer Publikation wieder überholt und vergessen.

Die Story, welche die Tamedia-Zeitungen am Abend des 10. März online und tags darauf in ihren Printausgaben von Winterthur bis Interlaken bringt, ist ein ganz anderes Kaliber. Sie suggeriert, dass es einen schnellen Weg zurück in die Normalität gegeben hätte.

Titel und Lead lassen keine Zweifel aufkommen: Der Bund hat es versemmelt. Gesundheitsminister Alain Berset erkannte im letzten Frühling die Riesenchance nicht, Lonza ein Vakzin aus der Schweiz für die Schweiz produzieren zu lassen. Der eitle, omnipräsente und laut Umfragen beliebteste Bundesrat machte also einen groben Fehler. Skandalös! Beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind die gut bezahlten Bürokraten, wie sie oft genannt werden, schon lange angeschossen. Von ihnen Agilität und Tempo zu erwarten, liegt ausserhalb des Vorstellbaren. Ein explosiver Plott, der in diesem Artikel angerichtet wird.

Die Story geht durch die Decke, Dutzende von anderen Medien greifen sie auf (hier: der «Blick»), das Thema ist gesetzt.

Im Bundeshaus läuft die zweite Sessionswoche, und die Wogen gehen hoch. Die Politik ist aufgeschreckt und macht Lärm, die Fraktionen wollen sich profilieren. So spricht die FDP Schweiz von einem Donnerschlag und verlangt Klärung, «bei Bedarf durch eine PUK», also einer Parlamentarischen Untersuchungskommission, wie sie im Fall Kopp oder bei der Fichenaffäre zum Zuge kam.

Ein paar Tage später wird klar, dass die Tamedia-Story eine Zeitungsente ist. (Die entscheidenden Artikel befinden sich am Ende dieses Postings.)

Vermutlich hilft ein Vergleich: Nehmen wir an, dass Sie an einem schönen Südhang ein neues Haus bauen wollen. In einem solchen Fall verhandeln Sie nicht mit dem Gipser, der auf der Parzelle nebenan arbeitet. Nein, sie verhandeln mit der Architektin, die das Projekt im Auftrag der Bauherrschaft entwickelt.

Lonza ist in der Rolle des Gipsers. In ihrem Werk in Visp produziert sie den Wirkstoff, also bloss einen Teil des Impfstoffs, und das im Auftrag von Moderna. Die Rechte liegen bei der Biotech-Unternehmung aus den USA, sie entscheidet, an wen der Impfstoff verkauft wird.

Berset und die BAG-Spitze hatten im Frühling 2020 keinen Spielraum, um auf eine eigene Produktionsanlage in Visp hinzuwirken. Das wäre auch sehr riskant gewesen, zumal man damals noch nicht wusste, welche Impfstoffe eingesetzt werden können.

Doch der Schaden in der Öffentlichkeit ist längst angerichtet: Das BAG mit Anne Lévy und Nora Kronig im Brennpunkt wird in Kommentarspalten, Leserbriefen und sozialen Medien an den Pranger gestellt. Im Volk sind die Zweifel am Impfplan noch einmal etwas grösser geworden. Und die FDP forderte tatsächlich auf Basis einer Zeitungsente eine Untersuchung, bei Bedarf eine PUK.

Am 16. bzw. 17. März berichten die Tamedia-Zeitungen erneut prominent über den Fall. Konkret korrigieren sie die Story der Vorwoche, nennen das allerdings «neue Recherchen». Sowohl auf ihren Online-Portalen wie im Print platzieren sie eine «Korrektur» (siehe nebenan). Ein aufmerksamer Twitterer weist darauf hin und bringt so den Stein ins Rollen.

Eine Entschuldigung für die schlampige (oder bewusst perfide) Arbeit sucht man vergebens, auch am Tag danach.

Gestern Morgen mailte ich Chefredaktor Arthur Rutishauser und der Medienstelle von Tamedia fünf Fragen zu diesem Fall.

Ich bitte Sie höflich, folgende Fragen schriftlich zu beantworten.

1.  Nehmen bei aufwändigen Recherchen zu heiklen Themen andere Redaktionsmitglieder einen zweiten Faktencheck vor, bevor der Artikel jeweils publiziert wird? Es geht hier explizit um tagesaktuelle Titel, nicht um die «SonntagsZeitung», und es geht um das grundsätzliche Meccano.

2.  Aus welchen Gründen blieb die Zeitungsente vom 10./11. März zunächst unerkannt?

3.  Ist die Reaktion, die Tamedia am 16./17. März mit der Notiz «Korrektur» platzierte, adäquat?

4.  Wie behandelt die Chefredaktion diesen Fall?

5.  Wie reduzieren Sie in Zukunft das Risiko solch gravierender Fehler, die die Glaubwürdigkeit des Journalismus und von Tamedia beeinträchtigen?

Gestern Abend ging Arthur Rutishausers Antwort via Medienstelle ein. Er beantwortet meine Fragen summarisch.

«Wir haben den ursprünglichen Artikel transparent korrigiert und aufgezeigt, was wir darüber wissen wie der Sachverhalt war. Alle involvierten Stellen wurden immer mit allen Sachverhalten konfrontiert und haben teilweise auch Stellung genommen. Offen bleibt, warum in der Schweiz scheiterte, was in den USA funktionierte – und dem gehen wir weiter nach.»

Rutishauser erkennt also keine Fehler seitens der Tamedia-Redaktion, ein schlichtes Pardon bleibt aus.

Die Tamedia-Zeitungsente hat bislang erst «Persönlich», das Portal der Kommunikationsbranche, aufgegriffen. Medienkritik hat es schwer in diesem Land – weil es keine Fehlerkultur gibt. Aber auch heute werden die Wellen wieder 800 neue Artikel zum Thema Coronavirus heranspülen.

*****
Nachfolgend die beiden Artikel der Tamedia-Zeitungen als PDF. Die Namen der beteiligten Medienschaffenden sind eingeschwärzt:

Bund wollte keine eigene Impfstoffproduktion
(11. März 2021)

Warum die Gespräche zwischen Berset und Lonza im Sand verliefen
(17. März 2021)

Von Anfang an einen soliden Job machte die NZZ mit ihrer Einordung:
Der Bund taugt nicht zum Impfstoff-Hersteller
(13. März 2021)

In der Krise zeigt der Bundesrat Führungsstärke

Die Corona-Welle überrollt die Schweiz, viele Menschen reagieren verunsichert. Der Bundesrat steht vor seiner grössten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg: Er muss das Land durch diese schwierige Zeit navigieren und die Leute mitnehmen. Die Kommunikation ist ihm bislang überzeugend gelungen. In der Krise zeigt die Regierung plötzlich Führungsstärke.

Die erste Welle der BAG-Informationskampagne ist kein Wurf, aber sie knallt – fürs erste in Gelb. An der Südgrenze werden Ende Februar an Bahnhöfen und Tankstellen 200’000 Flyer verteilt mit den Piktogrammen «Händewaschen», «Abstand halten» und «zu Hause bleiben». In derselben Phase treten Gesundheitsminister Alain Berset und Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) ein erstes Mal vor die Medien. Sie verkünden die «besondere Lage» gemäss Epidemiengesetz. Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen sind ab sofort verboten. Ein Murren geht durchs Land, aber das Verständnis für die Einschränkung überwiegt.

Bis zum 20. März folgen vier weitere Medienkonferenzen, der Bundesrat ist jeweils mit bis zu vier Mitgliedern vertreten. Jedes Mal werden weitergehende Massnahmen verfügt. Als er am 16. März die «ausserordentliche Lage» bekanntgibt, spürt man am Ende vieler Sätze ein Ausrufezeichen. Es ist ein eindringlicher Appell an die Nation, und er wird verstanden. In normalen Zeiten hätte man die Landesväter und -mütter als schulmeisterlich kritisiert. In dieser Situation lauten die Prädikate: klar und führungsstark.

 

Am nächsten Abend, wenige Sekunden vor dem «Echo der Zeit» von Radio SRF, ertönt unverhofft eine monotone Stimme: «Empfehlung des Bundesrats: Bleiben sie zu Hause! Insbesondere wenn sie alt oder krank sind!» Würden draussen noch die Sirenen heulen, wähnte man sich im Krieg. Dieselbe Information läuft seither vor jedem Nachrichtenbulletin und auch während Spielfilmen am Fernsehen wird sie eingeblendet.

Google, Twitter und Instagram installieren in Absprache mit den Behörden ein Aufklärungstool, das User nach dem Eintippen von Schlüsselwörtern rund um das Coronavirus direkt zu den Informationen des BAG weiterleitet. Vergleichbares geschieht auf Facebook und Youtube, dort ist allerdings die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Lead. In der Informationskampagne des BAG wechselt die Signalfarbe Anfang März von Gelb auf Rot. Die Werbemittel haben nun sechs Piktogramme und werden im ganzen Land massiert eingesetzt.

Der Bundesrat informiert die Medien stetig und nutzt dabei auch seinen Youtube-Kanal, um die Bevölkerung direkt zu erreichen. Das wirkt vertrauensbildend. Bei seinen Auftritten wirken die Regierungsmitglieder entschlossen, sie kommunizieren klar und überzeugend. Keine Zweifel, die Landesregierung hat das Heft in die Hand genommen, führt top-down und setzt sich durch. In einem durch und durch föderalistischen Land passt das auch jetzt nicht allen. Wenn es sein muss, werden sogar Kantone zurückgepfiffen, wie jüngst das Tessin und Uri oder die Gemeinde Bagnes (VS). Dass die Websites der Bundesverwaltung einmal während mehreren Stunden «down» waren – vergessen. Dass Bundeskanzler André Simonazzi Twitter nicht geschickter nutzt – kein Thema. Dass das BAG laut einer Recherche der «Republik» mit einem veralteten Meldesystem arbeitet – eine Randnotiz.

Bislang hat die Regierung mit viel Fingerspitzengefühl antizipiert, was verhältnismässig ist. Sehr heikel war die Schliessung der Schulen. Diese Entscheidung wurde nicht auf der Basis von Studien getroffen, sondern war nur politisch motiviert. Weil die meisten Nachbarländer ihre Schulen bereits geschlossen hatten, war der Druck zu gross geworden. Ein anderes Beispiel ist der Ruf nach einer Ausgangssperre, der vor allem in der Westschweiz laut wurde. Der Bundesrat blieb bisher standhaft, verbot aber Ansammlungen von mehr als fünf Personen. Insgesamt zeigt der Bundesrat bislang das, was er vorab im Europadossier seit Jahren vermissen lässt: Führungsstärke.

Einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kritisieren: «Too little, too late!» Ihre Aussagen multiplizieren sich in den sozialen Medien. Aus epidemiologischer Sicht haben sie vielleicht recht. Aber nehmen wir einmal an, die Landesregierung hätte den «Lock Down» bereits Ende Februar verfügt. Weite Teile der Bevölkerung hätten die einschneidenden Massnahmen weder verstanden noch mitgetragen, von den Arbeitgebern ganz zu schweigen.

Autoritäre Staaten setzen ihre Verbote konsequent durch. Die Menschen in der Schweiz hingegen erstritten sich ihre Kultur der Eigenverantwortung und ihre Freiheitsrechte. Eine schnelle und massive Veränderung des individuellen Verhaltens ist nur möglich, wenn die Leute sie akzeptieren. Dieser Prozess wird beschleunigt, wenn der entscheidende Akteur eine hohe Glaubwürdigkeit hat. Hierzu erreicht der Bundesrat bei Umfragen seit Langem gute Werte. Noch wichtiger ist aber ein anderer Faktor: Es gibt keine Kluft zwischen der Politik und dem Volk. Die allermeisten Menschen in unserem Land verstehen sich als Teil des Staates.

 

Seit sich die Corona-Krise zugespitzt hat, findet in Bern täglich ein «Point de Presse» statt. Dort geben Schlüsselpersonen aus den einzelnen Departementen erschöpfend Auskunft, was wo läuft. Proaktiv zu informieren ist weise, weil so das enorme Interesse der Medien gebündelt werden kann. Zugleich verschaffen sich die Beteiligten wieder etwas Luft für andere Arbeiten.

Einen Riesenjob macht Bundesrat Berset, und man sieht ihm die Nachtübungen an. Über das Wochenende lancierte er auf seinem Instagram-Profil die «So-schützen-wir-uns»-Challenge und forderte Roger Federer, Christa Rigozzi und Stress heraus – drei populäre Stars in den drei grossen Sprachregionen. Sie zückten ihre Smartphones und multiplizierten in eigenen Worten die Botschaft. Die Aktion zog sofort weitere Kreise, längst auch auf Twitter.

Die wichtigste Figur bleibt allerdings Daniel Koch. Der ausgebildete Arzt aus dem BAG ist die Ruhe selbst. Bei den Medienkonferenzen hört er sich die Fragen geduldig an und gibt dann professionell und konzis Antwort. Manchmal scheint sein Kopf im etwas zu grossen Anzug zu verschwinden. Er könnte ein Bruder des famosen US-Schauspielers John Malkovich sein und lässt auch mal seinen trockenen Humor aufblitzen. Auf die Frage eines Journalisten, ob er ihm den Konjunktiv erklären könne, den der Pharmakonzern Roche bezüglich neuer Corona-Tests verwendet habe, entgegnet er mit seiner sonoren Stimme: «Nein, ich bin nicht Sprachwissenschaftler, deshalb kann ich ihnen den Konjunktiv nicht erklären.» Die Sequenz ging viral, Koch hat Kultpotenzial. Es würde nicht überraschen, wenn auf Facebook plötzlich Fan-Seiten auftauchten, die fordern: «Koch 4 President».


Dieser Artikel ist auf Anfrage der «Medienwoche» entstanden und wurde dort zuerst publiziert. Die Fotomontage bei dieser Onlinezeitung kreierte Bildredaktor Marco Leisi – Top-Arbeit. Danke, dass wir sie übernehmen durften. 

Disclaimer: Die Firma des Autors hat keine Mandate bei der Bundesverwaltung.

 

Im Bundesrat ist jetzt Leadership gefragt

Der Coup der Grünen blieb aus: Damit sind die Bundesratswahlen genauso ausgegangen, wie es fast alle Journalistinnen und Auguren prognostiziert hatten. Es muss mehr Zeit verstreichen, bis eine aufstrebende politische Kraft in die Landesregierung integriert wird, obwohl sie «Anspruch» auf einen oder sogar zwei Sitze hätte. Das zeigt ein Blick in die Vergangenheit:

– Katholisch-Konservative, die heutige CVP: 1891;
– BGB, dir Vorläuferpartei der SVP: 1929;
– SP: 1943;
– SVP: 2003 bzw. 2015.

Die FDP und ihr Bundesrat Ignazio Cassis, dem der Angriff von Regula Rytz galt, sind erleichtert. Das dürfte insgeheim auch für die Grünen und ihre gescheiterte Kandidatin gelten. Sie wollten nicht mit letzter Konsequenz in die Landesregierung. Vor allem aber wissen sie, dass sie als Oppositionskraft mehr Druck aufbauen können – inhaltlich und elektoral. Viele Mitglieder verstehen die Grünen immer noch eher als Bewegung denn als Partei.

Es ist gut möglich, dass die Grünen in den nächsten Jahren bei kantonalen Wahlen weiter zulegen werden und, kraft ihrer neuen Stärke, in Bundesbern selbstbewusster auftreten. Tun sie es mit Cleverness, bleiben sie auf dem Radar der Medien und bleiben für einen Teil des Elektorats attraktiv.

Was geschieht bei der nächsten Vakanz, vorab wenn Ueli Maurer, immerhin seit elf Jahren im Amt, seinen Rücktritt ankündigt? Die Grünen werden wieder eine Kampfkandidatur lancieren. Dieser Zweikampf würde eine pikante Note erhalten, wenn die SVP-Kandidatin Magdalena Marullo-Blocher heissen sollte. Und was geschieht im Dezember 2023, wenn die Grünen immer noch unter den vier wählerstärksten Parteien figurieren?

Klar ist nur etwas: Die Zauberformel wurde heute Morgen geopfert, das Machtkartell hat sich problemlos durchgesetzt. Dass die Verteilung der Bundesratssitze ein Anachronismus ist und angepasst werden sollte, forderte ich vor ein paar Tagen in einem anderen Blog-Posting.

Der alte Bundesrat ist also zugleich der neue, hat allerdings ein paar alte Probleme zu lösen. Benennen wir nur eines: das Thema Europa. Seit Jahren schafft es der Bundesrat nicht, sich zusammenzuraufen. Das Rahmenabkommen liegt auf dem Tisch, aber die Landesväter und -mütter sind verzagt. Stattdessen wursteln sie sich irgendwie durch, Didier Burkhalter war irgendeinmal am Ende seiner Kräfte und warf den Bettel hin. Ignazio Cassis, sein Nachfolger, wollte den «Reset-Knopf» drücken, erwies sich dabei aber als Kommunikator, dem Klarheit und Finesse abgehen. EU-Unterhändler Roberto Balzaretti schliesslich ist inzwischen «verbrannt», wie das Diplomaten nennen. Es macht keinen Sinn, ihn weiterhin für Verhandlungen nach Brüssel zu schicken.

Kurz und schlecht: Es fehlte in diesem Bundesrat bislang an Leadership. Just das wurde auch im jüngsten Sorgenbarometer der CS bemängelt. Demnach sehen 77 Prozent der Befragten «die sinkende Fähigkeit der Politik, für tragfähige Lösungen zu sorgen» als die grösste Gefahr für die Schweizer Identität. Es folgen die Problemen mit der EU (62 Prozent) und der Reformstau generell (61 Prozent).

Plädoyer für eine neue Zauberformel

Im Vorfeld von Bundesratswahlen beginnt ein Satz immer gleich: «Wir haben Anspruch auf…» Er fällt seit 1999 mit penetranter Häufigkeit. Die Bundesverfassung hingegen hält nur fest, dass die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen vertreten sein sollten.

Den Anspruch auf Bundesratssitze begründen Politikerinnen und Politiker rechnerisch auf unterschiedlichste Weise, beispielsweise abgestützt auf die

– aktuelle Parteistärke in Prozentpunkten;
– Anzahl Sitze im National- und Ständerat;
– Stärke der Lager Rechts/Mitte/Links.

Je nach Konstellation wird auch die Zauberformel ins Feld geführt. Demnach erhalten die drei wählerstärksten Parteien je zwei Sitze in der Landesregierung, die vierstärkste schliesslich noch einen Sitz. Diese Formel hat seit 1959 Gültigkeit, wurde allerdings in der Phase von 1999 bis 2003 sowie während der Wirren um Eveline Widmer-Schlumpf zwischen 2008 und 2015 unterlaufen (Parteiausschluss, danach Übertritt zur BDP, Samuel Schmid folgte).

Offen gestanden ermüdet mich die «Wir-haben-Anspruch»-Diskussion schon lange. Wie die Mitglieder der Landesregierung gewählt werden, ist ohnehin ein Anachronismus: Die wichtigsten Kriterien sind Parteibuch, Konstellation und (sprach-)regionale Herkunft.

Tabelle: NZZ am Sonntag

Würde das Parlament am kommenden Mittwoch der Zauberformel treu bleiben, müsste die CVP den Sitz von Viola Amherd räumen und der Kandidatin der Grünen, Regula Rytz, überlassen (siehe Tabelle oben). Das wollen allerdings auch die Grünen nicht, zumal Amherd im VBS einen guten Start hinlegte. Der Angriff gilt vielmehr FDP-Bundesrat Ignazio Cassis. Doch damit stürzen sie einige Mitglieder der Vereinigten Bundesversammlung ins Dilemma: Grün oder Tessin – das ist die Gretchenfrage.

Dass Rytz’ Angriff auflaufen wird, thematisierte ich schon in zwei früheren Postings, am 6. September und dann am 21. November.

Wichtig wäre, dass in Zukunft ein Verteilschlüssel zur Anwendung kommt, der den Willen der Wählerinnen und Wähler besser abbildet. In der aktuellen Zusammensetzung, 2 SVP, 2 FDP, 2 SP und 1 CVP, werden noch 69 Prozent des Wahlvolks repräsentiert; der Stuhl hat nicht mehr vier solide Beine und verliert deshalb an Stabilität (Bild). Ein solcher Wert ist für Schweizer Verhältnisse tief, früher hatte er sich bei etwa 80 Prozent eingependelt (Ausnahme 1991 – 1995).

Die SVP wuchs gemäss einer Hypothese auch deswegen so robust, weil man ihr die Doppelvertretung im Bundesrat mehrmals verweigerte. Es ist möglich, dass nun auch die Grünen von ihrer Quasi-Oppositionsrolle profitieren können und 2023 nochmals zulegen.

Was geschieht dann? Räumt die CVP ihren einzigen Sitz, so sie wiederum als fünfstärkste Partei ins Ziel kommt? Oder gibt die FDP bzw. die SP freiwillig einen Sitz ab?

Vergessen Sie es! In der Politik geht es um Macht, und ein Sitz im Bundesrat bedeutet viel Macht. Ohne eine klare gesetzliche Regelung wird das Machtkartell der vier Bundesratsparteien ihre Sitze immer wieder zu verteidigen wissen.

CVP-Präsident Gerhard Pfister machte in der «Schweiz am Wochenende» einen kreativen Vorschlag: Die Amtsdauer der Bundesrätinnen und Bundesräte soll auf acht Jahre beschränkt werden. Die Amtszeit aller Bundesräte seit 1848 beträgt im Durchschnitt zehn Jahre, seit dem Zweiten Weltkrieg sind es elf Jahre. Das Amt laugt aus, die Belastung ist enorm, viele Bundesräte haben es nicht geschafft, ihre Rücktritt auf einem Höhepunkt anzukündigen.

Es gäbe nichts mehr zu dealen und zu powern

Klar, Amtszeitbeschränkungen sind ein Eingriff in die Freiheit und deshalb nicht populär. Dennoch sollte man über diesen Vorschlag diskutieren und prüfen, egal ob er acht, zehn oder zwölf Jahre beinhaltet: Starke Figuren, die in der Landesregierung schnell Fuss fassen, können weiterhin einiges bewirken. Zugleich wissen sie stets, dass sie nach einer fix definierten Anzahl Jahre wieder abtreten werden. So könnten sie während dieser Zeitspanne ihre Energie gezielt freisetzen.

Eine Amtszeitbeschränkung würde im Weiteren die taktischen Spielchen um die Nachfolge reduzieren, politische Karrieren wären plan- und berechenbar.

Der zweite Teil der Regelung umfasst eine Formel für die Verteilung der sieben Bundesratssitze. Eine Partei, die in beiden Kammern 35 Sitze holt, hat einen Bundesratssitz auf sicher. Die «Restmandate» gehen an die Parteien mit dem grössten Überhang.

Im aktuellen Fall präsentierte sich die Sitzverteilung wie folgt: Die SVP könnte zwei Bundesratssitze beanspruchen (mit 59 Mandaten im Parlament), währenddessen SP (48), FDP (41), CVP (38), Grüne (33) und Grünliberale (16) je einen Sitz erhielten.

Mit einer solchen Formel wären die Spekulationen und Winkelzüge im Vorfeld von Bundesratswahlen obsolet, das Machtkartell würde zerbrechen. Es gäbe schlicht nichts mehr zu dealen und zu powern! Die Sitzverteilung muss demokratisch wieder besser legitimiert werden. Gute Köpfe im Parlament haben es in der Hand, eine Reform zu erarbeiten, die in vier, spätestens aber in acht Jahren erstmals zur Anwendung kommt.

Man solle «mehr Demokratie wagen», sagte Willy Brandt einmal. Das Schweizer Volk hat Anspruch (ha!) darauf, dass seine Präferenzen sich in der Zusammensetzung der Landesregierung widerspiegeln.