Mein erster direkter Kontakt mit dem Microblogging-Dienst Twitter war prägend. Etwa vor einem Jahr traf ich an der Aare einen Berufskollegen. Er war daran, auf seinem Handy eine Kurznachricht – in der Fachsprache Tweet genannt – zu verfassen. Ich guckte ihm über die Schultern: “Aare ist kuul, 17 Grad”, konnte ich entziffern.
Ich war überwältigt. “Bei derart epochaler Kurzprosa kann ich nicht mithalten”, dachte ich mir und beschloss, Twitter zu ignorieren.
Als während der Jahreswende 2008/2009 im Gazastreifen der Krieg ausbrach, waren die Tweets für die isolierten Journalisten oftmals die einzigen Quellen. Allerdings missbrauchten Palästinenser wie die israelische Armee diesen neuen Medienkanal auch für ihre Zwecke – “Kriegsgezwitscher”.
Am 15. Januar 2009 tauchte Twitter wieder auf meinem Radar auf und weckte nun definitiv mein Interesse: Der Amerikaner Janis Krums machte mit seinem iPhone ein Foto und veröffentlichte es sofort auf Twitter. Das Foto schaffte es in kürzester Zeit rund um den Erdball. “There’s a plane in the Hudson. Crazy”, schrieb Krums dazu. Der Airbus in New York hatte wegen Vogelschlag sofort wassern müssen.
Während und nach den Wahlen im Iran zeigte sich erstmals in aller Deutlichkeit, welchen Einfluss die Web2.0-Kanäle wie Facebook, Blogs und eben Twitter haben können. Etwa 2 Millionen Tweets wurden während der Proteste verbreitet, weltweit machten fast 500’000 Personen bei der Diskussion über die Ereignisse mit. Oppositionsführer Mousavi höchstpersönlich verbreitete unermüdlich Updates über seinen Account (Twittername: Mousavi1388). Ein Beispiel:
Next peaceful protest, Tomorrow (05 Aug.), 9 am, Baharestan Sq. in front of parliament #iranElection RT plz12:24 PM Aug 4th from web
Tweets erreichen ihr Publikum direkt bzw. das Publikum findet die Tweets, für die es sich interessiert. Die Massenmedien, die mit ihren eigenen Selektionskriterien mächtige Gatekeeper sind, werden umgangen. Mit Twitter, Blogs und Foren usw. entwickeln sich Medienkanäle, die Demokratisierungsprozesse beschleunigen können. Zudem entsteht Bürgerjournalismus. Alles in allem eine grosse Chance, zugleich aber auch eine grosse Gefahr. Was, wenn wir Fakes aufsitzen?
In der Schweiz rückte Twitter die letzten Monate zunehmend in den Fokus der Medien. Das Schweizer Fernsehen und viele Zeitungen verbreiten ihre Schlagzeilen inzwischen auch via Twitter. Das Uvek bläst jede Medienmitteilung in die Welt, ebenso die Stadt Winterthur – etwa so prickelnd wie lauwarmer Zitronensaft.
Seit kurzem versuchen auch ein paar Schweizer Parteien, Twitter für ihre Zwecke zu nutzen. Die Präsidenten Brunner, Levrat und Pelli zwitschern auch – oder sie lassen zwitschern, wie ich vermute. Unter dem Twitternamen “fdpschweiz” verbreitet eine anonyme Person Nachrichten, nicht die FDP (richtig wäre FDP_Liberalen).
Ein Ende ist nicht abzusehen, der grosse Hype steht uns noch bevor. Ich gehe davon aus, dass bei den eidgenössischen Wahlen 2011 Twitter das grosse Medienthema sein wird. Das bringt das Land zwar kaum weiter, und das Wahlkampfgezwitscher wird zu 99,742 Prozent belanglos sein, aber: Metathemen interessieren die Massenmedien schon seit geraumer Zeit mehr als die Abhandlung von komplexen Inhalten.
Kurz: ich versuche auch zu twittern, spät wie die alte Fasnacht stosse ich zu Community der Singvögel, Elstern und Aasgeier. Allerdings widersetze ich mich dem Trend, mit einem Pseudonym zu zwitschern (to twitter = zwitschern). Zudem haben wir Agentur-intern das Modeverb umgetauft: in tschilpen. Meine “Adresse” lautet:
Mark_Balsiger
Für solche, die bereits einen Account haben: http://twitter.com/Mark_Balsiger
Dass die Welt nicht wissen möchte, ob ich am Sonntagmorgen Erdbeerkonfitüre oder kalt geschleuderten Waldhonig aus der Provence auf mein Brot streiche, ist klar. Also lass’ ich derart unsinniges Blabla auch sein. Beim Zwitschern bleibe ich meinen Themen treu, angereichert mit Halbprivatem, das Augenzwinkern wird nicht fehlen.
Mark Balsiger