Adrian Amstutz – eine Nicht-Kandidatur für die Galerie

Adrian Amstutz, Staenderat SVP Bern © Valérie Chételat

Stehen Mitglieder des eidgenössischen Parlaments frühmorgens vor dem Spiegel, sind die meisten der Überzeugung: „So sehen Bundesräte aus.“ Dieses Bonmot stammt von Altmeister Iwan Rickenbacher und kommt der Wahrheit vermutlich ziemlich nahe.

Eine kleine Minderheit der 246-köpfigen Zirkels ist bei der Selbsteinschätzung kritischer. So der langjährige Berner Nationalrat Adrian Amstutz (svp). Am 28. Februar dieses Jahres nahm er sich in einem Interview mit der NZZ selbst aus dem Rennen:

nzz_inti_amstutz_2015_02_28_format_600Der Fraktionschef der SVP bekundete also öffentlich, sich die Befähigung als Bundesrat abzusprechen. Das ist ehrlich und ehrt ihn. Trotzdem wurde er gestern von Parteipräsident Toni Brunner als Kandidat lanciert. Eine konkrete Anfrage hat Amstutz zwar (noch) nicht erhalten, und entsprechend hat er auch keine Zusage gemacht. Solche Personalien werden offenbar in der Sonntagspresse angestossen, die Zusammenarbeit zwischen SVP und „SonntagsZeitung“ funktioniert seit Jahren ausgezeichnet. (Der Titel auf der Frontseite lautet: “SVP will Amstutz als Asylminister”. Die Verben fordern, prüfen und wollen sind in diesem Mediengenre sehr häufig anzutreffen. Das nur nebenbei.)

Ungeschickt an diesem Winkelzug ist, dass Amstutz zur Findungskommission möglicher SVP-Bundesratskandidaten gehört. Ungeschickt ist auch der Zeitpunkt: Die Bundesratswahlen finden erst Anfang Dezember statt. Wer schon jetzt aus der Deckung herauskommt, wird garantiert zerrieben. Die eiserne Regel lautet: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.

Doch richten wir unser Augenmerk generell auf die Bundesratswahlen: Es gibt zwei Kriterien, die für den Wahlerfolg eine überragende Bedeutung haben:

1. Die regionale Herkunft.
2. Möglichst wenigen Mitgliedern der Bundesversammlung auf die Füsse getreten zu sein.

Zu Punkt 1)
Mit der letzten Revision der Bundesverfassung 1999 fiel die sogenannte Kantonsklausel. Seither dürfen mehrere Bundesratsmitglieder aus demselben Kanton stammen. Doppelvertretungen wurden seit 2003 zum Standard:

– Moritz Leuenberger/Christoph Blocher (ZH, 2003 – 2007)
– Moritz Leuenberger/Ueli Maurer (ZH, 2008 – 2010)
– Simonetta Sommaruga/Johann Schneider-Ammann (BE, seit 2010)

Dass drei Mitglieder der Landesregierung aus demselben Kanton kommen, dürfen wir ausschliessen. Für eine solche Kumulation von Würde und Macht wäre die Vereinigte Bundesversammlung nie zu haben, die regionale Durchmischung der Landesregierung wird stark gewichtet. In einem Live-Interview im „Heute Morgen“ von Radio SRF mass Toni Brunner diesem Aspekt keine Bedeutung zu.

Zu Punkt 2)
Die Regel bei Bundesratswahlen ist, dass amtierende National- oder Ständeräte das Rennen machen. In den letzten 40 Jahren gab es fünf Ausnahmen: Otto Stich (SP, alt Nationalrat SO, 1983), Ruth Dreifuss (SP, GE, 1993), Ruth Metzler (CVP, Regierungsrätin AI, 1999), Micheline Calmy-Rey (SP, Regierungsrätin GE, 2002) und Eveline Widmer-Schlumpf (SVP, Regierungsrätin GR, 2007). Sehr gute Karten haben Kandidatinnen und Kandidaten, die umgänglich, breit akzeptiert und in allen Fraktionen gut vernetzt sind. Solche mit Ecken und Kanten hingegen schaffen den Sprung nicht. Auch aus diesem Grund wäre Amstutz’ Kandidatur chancenlos.

Ein Blick zurück offenbart im Weiteren, dass oftmals weder die Besten und Wägsten noch die Favoriten der eigenen Partei das Rennen machen. Gerade die FDP und die SP mussten immer wieder zähneknirschend zusehen, wie ihnen die Bundesversammlung nicht offizielle Kandidaten aufs Auge drückte. Die SVP machte diese Erfahrung in den Jahren 2000 (Samuel Schmid) und 2007 (Eveline Widmer-Schlumpf).

Mit Verlaub, aber die SVP braucht ihre Lieblingsgegnerin

Die Personalie Amstutz hat noch einen weiteren Haken: Würde er tatsächlich Vorsteher des EJPD und damit “Asylminister”, verlöre die SVP auf einen Schlag ihre Lieblingsgegnerin. Seit viereinhalb Jahren prügelt sie systematisch auf Bundesrätin Sommaruga (sp) ein, genauso wie die SP auf Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (fdp) eindrischt.

Dass die SVP ihr Lieblingsfeld, die Ausländer- und Asylpolitik, aus Rücksichtnahme auf einen eigenen Bundesrat nicht mehr beackern will, darf man ausschliessen. Folglich wird sie alles daran setzen, das ungeliebte Departement nicht zu erhalten. Selbstverständlich deklamiert sie das Gegenteil: “Wir wollen Verantwortung übernehmen!” – ein Doppelspiel.

Fazit: 
Adrian Amstutz’ “Nicht-Kandidatur” ist für die Galerie. In Tat und Wahrheit ging es mit seiner Lancierung darum, das Thema Asyl mit einer pikanten Personalie zu würzen: Amstutz löste im Frühling 2011 Sommaruga im Ständerat ab, wurde aber ein halbes Jahr später nicht mehr wiedergewählt; zudem mögen sich die beiden überhaupt nicht.

Die “SonntagsZeitung” produzierte gestern wieder einmal eine “geile Story”, wie das redaktionsintern genannt wird, und diese dreht nun wunderbar. Nicht weniger als 40 verschiedene Medien haben gemäss Swissdox (Stand heute um 12 Uhr) den “Primeur” bislang aufgegriffen. Die SVP dominiert Schlagzeilen und Agenda, die Medien dienen als Megafon – Business as usual.

Mark Balsiger

Nachtrag vom Dienstag, 11. August 2015, 14 Uhr

Inzwischen verzeichnet Swissdox 70 verschiedene Beiträge zum Thema Nicht-Kandidat Amstutz. Ein längeres Interview gab der Berner Politologe Marc Bühlmann in “Bund” und “Tages-Anzeiger”.

Foto Adrian Amstutz: derbund.ch

“Der Zerfall der BDP könnte schon in diesem Herbst beginnen”

Die eidgenössischen Wahlen vom Oktober werfen ihre Schatten voraus, die politischen Akteure sind im Wahlkampf-Modus. Was bedeutet die Frankenstärke im Wahljahr? Wie steht es um die Zukunft der BDP? Was ist von der Formstärke der FDP bei kantonalen Wahlen in diesem Jahr zu halten. Gestern stand ich dem Online-Portal cash.ch zu solchen Fragen Rede und Antwort.

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cash: Die eidgenössischen Wahlen am 18. Oktober finden etwa ein Dreivierteljahr nach der Aufhebung der Kurs-Untergrenze Euro-Franken statt. Wie prägt die wirtschaftliche Unsicherheit die politische Schweiz?

Mark Balsiger: Die Frankenstärke ist das Megathema des Wahljahres 2015. 2003 mit dem ‘Jahrhundertsommer’ war es der Klimawandel, 2007 die Frage über den Verbleib Christoph Blochers im Bundesrat und 2011 bis Mitte Sommer die Atomkatastrophe von Fukushima und die Energiepolitik.

Wem nützt das Thema Frankenstärke am ehesten?

Bis jetzt haben wir gesehen, dass es der FDP nützt. Wenn wirtschaftliche Themen im Vordergrund stehen, dann profitiert die Wirtschaftspartei – dieses Label hat die FDP noch immer, stärker als alle anderen Parteien. Deswegen hat die FDP in diesem Jahr bei allen kantonalen Wahlen zugelegt. Ich glaube nicht an einen ‘Müller-Effekt’ oder an die Früchte einer Neupositionierung. Der Erfolg hat mit der politischen Grosswetterlage zu tun – zugespitzt: Ökonomie statt Ökologie.

Das Wirtschaftsthema könnte aber geradesogut der Linken helfen…

… die SP könnte auch profitieren, aber erst in einer späteren Phase. Wenn die Arbeitslosigkeit deutlich steigt, werden soziale Fragen drängender. Die Angst vor Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg kann der SP durchaus wieder Zuwachs bescheren. Die Frankenstärke muss dazu aber sozial spürbar werden.

Die FDP hat wie gesagt Auftrieb bei den Kantonswahlen. Aber könnte sie nach den National- und Ständeratswahlen nicht eventuell enttäuscht sein?

Die FDP hat national seit 1983 nur verloren. Die jüngsten Erfolge geben der Partei aber Selbstvertrauen, Schwung und sie elektrisieren. Das kann den langjährigen Negativtrend stoppen. Man muss aber auch sehen: Die Wahlen in diesem Jahr fielen positiv aus für die FDP, aber sie hat davor in kantonalen Wahlen nicht weniger als 13 Mal verloren.

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Auch die SVP will dazugewinnen. Das Aufgebot prominenter Quereinsteiger – Ems-Chefin Magdalena Martullo-Blocher und Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel – kann als Kalkül gewertet werden, mit grossen Namen Stimmen holen zu können. Aber es kann aus so gelesen werden: Die SVP muss bekannte Namen bringen, weil sonst mit dem altbekannten Personal die Anziehungskraft fehlt. Was trifft eher zu?

Die SVP wird gewählt wegen des ‘Labels SVP’, das zeigen Untersuchungen. Keine andere Partei profitiert so stark vom Programm, wie es vom Publikum wahrgenommen wird. Quereinsteiger in der Politik gab es indessen immer, und für jede Partei ist es dankbar, wenn sie prominente Namen auf die Liste setzen kann. Roger Köppel wird sicher gewählt, Martullo-Blocher kaum. Ihre Kandidatur ist aber ein ‘Mediencoup’: Innerhalb der ersten drei Tage nach Bekanntgabe der jeweiligen Kandidaturen hatten die beiden SVP-Quereinstiger gemäss der Mediendatenbank SMD je über 100 Notierungen, das ist gigantisch. Botschafter Tim Guldimann, der für die SP in Zürich kandidiert, wurde bislang kaum wahrgenommen.

Spekuliert Frau Martullo-Blocher eher darauf, in einer späteren Wahl Erfolg zu haben?

Sie wird eine realistische Einschätzung gemacht haben: Es ist nicht sicher, dass die SVP neben dem bekannten und starken Nationalrat Heinz Brand in Graubünden einen zweiten Sitz holt. Martullo-Blocher hat Freude am Aufmischen, an der Provokation. Ihre Kandidatur ist ein Versuch.

Angesichts der bürgerlichen Erfolge im bisherigen Jahr wird schon von einem ‘Rechtsrutsch’ gesprochen. Wie ist so ein Begriff überhaupt einzuordnen?

Eine Mehrheit von FDP und SVP im Parlament  – als nicht nur im Nationalrat, sondern auch im Ständerat – kann man ausschliessen. Der Begriff Rechtsrutsch ist zu einem Kampfbegriff geworden: Die Linke warnt davor, bei den Bürgerlichen wird mehr von einem ‘Schulterschluss’ gesprochen.

Die so genannten Mitteparteien CVP, EVP, Grünliberale und BDP werden also weiter wichtig bleiben?

Die Mitte ist herausgefordert, sie ist fragmentiert, und sie ist in den letzten Jahren von den jungen Parteien BDP und Grünliberale aufgemischt worden. Die BDP hat ausser in den Kantonen Bern und Graubünden, wo es 2008 die grossen Zerwürfnisse mit der SVP gab, keine gefestigten Standorte.

Was bedeutet das?

Wenn bei einer jungen bürgerlichen Partei wie der BDP eine Negativspirale einsetzt, kann sie ambitionierten Mitgliedern keine Karrieremöglichkeiten mehr anbieten. Der Zulauf versiegt, und das ist das Damoklesschwert über der BDP. Der Zerfall der Partei könnte schon in diesem Herbst beginnen.

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Aber für die nächste Legislatur wird die BDP Eveline Widmer-Schlumpf im Bundesrat halten können?

Wenn die BDP im Oktober Wähleranteile und Sitze verliert, könnte Bundesrätin Widmer-Schlumpf zum Schluss kommen, dass sie besser nicht mehr kandidiert. Ohne sie fehlt der Partei aber ihr bekanntester Kopf. Würde ihr Sitz frei, müsste wieder der alte Verteilschlüssel gelten: Die drei grössten Parteien haben zwei Sitze, die vierte einen – also auch zwei Sitze für die SVP. Diese müsste kooperieren und einen überparteilich akzeptierten Kandidaten aufbauen. Für viele Mitte-Links-Parlamentarier sind zwei SVP-Bundesräte ein Horrorszenario.

Woran kranken die Grünen? Ist es allein der Fukushima-Effekt, der sich nicht wie 2011 auswirkt?

Seit der Entstehung in den Achtzigerjahren erleben die Grünen immer wieder einen Jo-Jo-Effekt. Nachdem sie 2003 und 2007 kräftig zugelegt hatten, sieht es im Oktober 2015 wieder nach Verlusten aus. Die Partei hat sich aber etabliert und stellt in Städten und Kantonen pragmatische Exekutivpolitiker.

Die SP dürfte ihren Stimmenanteil behalten. Steht einem stärkeren Wachstum nicht auch entgegen, dass die SP im Vergleich zu anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa relativ weit links steht?

Die SP ist im europäischen Vergleich tatsächlich weit links und fährt seit einigen Jahren auch einen pronocierten Linkskurs. Die Phasen der Öffnung zur Mitte und damit zu anderen Wählersegmenten sind vorbei. Sie hat  sich auch oft auch – durchaus mit gewissem Erfolg – als ‘Anti-Blocher-Partei’ angepriesen. Aber sie muss auch stärker betonen, wofür sie ist. Es ist fatal, dass sie sich zur Schicksalfrage Europa – Bilaterale Verträge – wenig äussert. Vielleicht hat sie Angst, in dieser Frage gegen die europakritische SVP zu verlieren.

Interview cash.ch: Marc Forster 

“Bürgerlich” war ein politischer Kampfbegriff

blöcke_580_golcal_deSpätestens seit den kantonalen Wahlen im Baselbiet vom 8. Februar werden die Begriffe “bürgerlich” und “Bürgerblock” wieder oft verwendet. Dort holte die geschlossene Allianz von CVP, FDP und SVP vier von fünf Regierungssitzen – ein souveräner Erfolg.

Schon im Januar hatte Markus Somm, Chefredaktor der “Basler Zeitung”, den bürgerlichen Präsidenten der nationalen Parteien in einem Leitartikel empfohlen: “Fahren Sie nach Liestal. Niemand spricht davon, dass sich alle drei bürgerlichen Parteien in allem einig sein müssen, im Gegenteil. (…) Nötig aber ist der Wille zum Erfolg. Zum bürgerlichen Erfolg.”

Letzte Woche legte Peter Keller, SVP-Nationalrat und “Weltwoche”-Redaktor nach (Artikel online nicht verfügbar). Er ruft dazu auf, der SP bei den Bundesratswahlen im Dezember einen Sitz wegzunehmen und stattdessen der SVP zu geben. Das sind neue Töne aus dem Lager der SVP: In den letzten Jahren galten ihre Angriffe stets BDP-Magistratin Eveline Widmer-Schlumpf und der FDP.

Doch welches Potential hat der oft proklamierte “bürgerliche Schulterschluss”? Fabian Renz, Bundeshausredaktor von “Bund” und “Tages-Anzeiger”, tat ihn gestern als Illusion ab, die Differenzen in der Europapolitik seien zu gross.

Dieser Befund ist schlüssig. Es gibt einen zweiten Grund, der eine Renaissance des Bürgerblocks verhindern dürfte: Die bescheidene Affinität der CVP-Wählern zur SVP.

Was die Nachwahlbefragung 2011 von “Selects” ergab:

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Wie die Zusammenstellung des Politologen Daniel Bochsler zeigt, konnte sich also nicht einmal 30 Prozent der CVP-Basis vorstellen, SVP zu wählen. SP, GLP und BDP kamen auf Werte zwischen 52 und 58 Prozent, die FDP sogar auf 65 Prozent. Die Abneigung gegenüber der SVP dürfte sich in den letzten vier Jahren kaum stark verändert haben.

So viel zur aktuellen Debatte um den Bürgerblock. Werfen wir im zweiten Teil dieses Postings einen Blick zurück:

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«Bürgerlich» ist ein politischer Kampfbegriff. Er bringt in der Schweiz die bürgerlichen Parteien – also CVP, FDP, SVP und LPS – unter ein Dach. Diese formierten sich gegen die Sozialdemokraten, die 1918 (nach dem Landesstreik) und 1919 (nach den ersten Nationalratswahlen im Proporzsystem) massiv stärker geworden waren. Im selben Jahr überliess der Freisinn den Katholisch-Konservativen (der heutigen CVP) einen zweiten Bundesratssitz; mit diesem geschickten Schachzug konnten die Verlierer des Sonderbundskriegs (1847), die einen zentralistischen Staat ablehnten, noch stärker eingebunden werden. So wurde der Bürgerblock homogen, und das Bollwerk gegen den Feind von links stand.

In ihren Positionen waren die bürgerlichen Parteien meistens deckungsgleich, obwohl ihre Mitglieder aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus stammten. Dennoch dominierte die Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital die Politik während Jahrzehnten. Erste Risse im Bürgerblock wurden in den Siebzigerjahren sichtbar, als sich Teile der CVP von ihren konservativen Überzeugungen lösten und die FDP sich auf den Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat» verständigte.

Die SVP, die ihren Wähleranteil zwischen 1987 und 2007 fast verdreifachen konnte, versucht seit langem, den Begriff «bürgerlich» zu monopolisieren. Eine Zeitlang bezeichneten ihre Spitzenleute die CVP und die FDP als Linke oder Weichsinnige. Mit dem Umbau der SVP von einer gemütlichen, ländlich geprägten Bauern- und Gewerblerpartei zu einer nationalkonservativen Massenbewegung, die seit 1992 das professionellste Polit-Marketing betreibt und die Top-down-Methode anwendet, entstand eine neue Konfliktlinie.

Auch wenn «bürgerlich» weiterhin oft gebraucht wird, gibt es den Bürgerblock heute faktisch nicht mehr, denn das Trennende wird stärker betont als das Gemeinsame. Zudem führte die Gründung der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP, im Jahr 2008) und der Grünliberalen Partei (GLP, Im Jahr 2004) zu einer weiteren Zersplitterung der ehemals «bürgerlichen» Parteienlandschaft.

Mark Balsiger


Grafik: Daniel Bochsler

Fotos: golcal.de, bazonline

Ueli, der Meister am Schachbrett

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Für Peach Weber ist klar: Von allen sieben Bundesräten hat Ueli Maurer den grössten Unterhaltungswert. Der Komiker bezichtigte ihn letzte Woche in der “Aargauer Zeitung” aber auch der „Tollpatschigkeit“. Ausgerechnet Weber, der seinem Publikum seit Jahrzehnten erfolgreich vorgaukelt, er sei so durchschnittlich wie seine Pointen, blendet aus, dass auch Maurer nur eine Rolle spielt.

Als Maurer 1996 das Präsidium der SVP Schweiz übernahm, wurde er belächelt, niemand traute ihm dieses Amt zu. Der damalige SP-Chef Peter Bodenmann verspottete Maurer als “Suppenkaspar”. In „Viktors Spätprogramm“ erlangte er als trottliger Handlanger von Blochers Gnaden grosse Bekanntheit. Die Figur, die Viktor Giacobbo seither lustvoll spielt, ist ein garantierter Lacher.

In der Satire ist Ueli natürlich eine Lachnummer geblieben, als Parteipräsident mauserte sich Maurer aber zu einem Schwergewicht. Unermüdlich trieb er das SVP-Volch an und war sich nicht zu schade, jährlich an 250 Abendveranstaltungen teilzunehmen. In den „Elephantenrunden“ im Schweizer Fernsehen zog er vom ersten Moment an ein Powerplay auf, dem die anderen Parteipräsidenten selten etwas entgegenhalten konnten.

Als SVP-Präsident markierte Maurer zwölf Jahre lang den harten Hund. Der Wechsel zum Bundesrat gelang ihm 2009 problemlos. Er gab sich sehr kollegial und verschwand auf dem Radar der Medien. Ich behaupte: bewusst. Maurer wollte sich fernab des Scheinwerferlichts einarbeiten, die Feinmechanik der Bundespolitik noch besser durchschauen – und in Ruhe das „Big Game“ vorbereiten. Das Spiel heisst: Aufstockung des Armeebudgets und Beschaffung neuer Kampfflugzeuge.

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Was vor fünf Jahren mit dem kühnen Schachzug eines Grossmeisters begann, ist jetzt auf der Zielgeraden. Maurer beantragte der Landesregierung damals, keine neuen Kampfjets zu beschaffen. Diese machten nur Sinn, wenn auch das Armeebudget auf fünf Milliarden Franken erhöht werden könne. Die Verblüffung bei Armeefreunden und -gegnern war gross, die Provokation des cleveren Machtarchitekten begann Wirkung zu entfalten. Sie führte zu einem Comeback der alten Seilschaften, die bewaffnete Neutralität und eine starke Armee sind wieder en vogue, das Weltbild des Verteidigungsministers hat sich durchgesetzt.

Natürlich, die Kampagne der Gripen-Befürworter wurde die letzten Monate von Pannen und Fettnäpfchen begleitet. Bei Lichte betrachtet sind der Plan B von Pilot und SVP-Nationalrat Thomas Hurter, Maurers Ausraster in der SRF-„Rundschau“ oder die undiplomatischen Äusserungen des Schwedischen Botschafters allerdings nur Nebenschauplätze. Für die Abstimmung vom 18. Mai haben sie kaum Bedeutung, und das weiss der instinktsichere Maurer. Zentral ist die Mobilisierung und deshalb bestreitet er im Abstimmungskampf vor allem Heimspiele. Die Leute der Armee-Schweiz amüsieren sich über seinen dämlichen Frauenwitz, den er zum Besten gibt. Solche Dummheiten haben System: Maurer füttert damit die Medien. Publizität ist alles, das hat Maurer schon in den Neunzigerjahren erkannt. Oder glauben Sie im Ernst, er schiesse solche “Böcke”? Dass man ihm Tollpatschigkeit und anderes unterstellt, ist er sich seit bald 20 Jahren gewohnt; das lässt ihn kalt.

Dank seinem gerissenen Plan hat sich eine Phalanx von Offizieren, konservativen Sicherheitspolitikern, Flugzeugfans, kalte Kriegern und Schützenvereinen formiert. Sie haben den Auftrag verinnerlicht und marschieren.

Maurer war der erfolgreichste Parteipräsident seit Jahrzehnten. Als Bundesrat dürfte ihm mit der Gripen-Abstimmung sein grösster Sieg gelingen. Er geht als Meister am Schachbrett in die Geschichtsbücher ein, während uns andere mit einem 15-sekündigen „Bü-bü-Bündnerfleisch!“-Lacher in Erinnerung bleiben.

Mark Balsiger

Dieser Text entstand auf Anfrage der “Aargauer Zeitung”/”Die Nordwestschweiz”, die ihn heute in einer leicht gekürzten Version publizierte.

Fotos:
– Ueli Maurer, Limmattalerzeitung
– Gripen, gripen.com

Wenn zwei sendungsbewusste Spaltpilze ein wenig über ihr Bild der Schweiz streiten

Die Abstimmung zur Masseneinwanderungs-Initiative vom 9. Februar hat unser Land in zwei gleich grosse Schweizen gespaltet – in die Flughafenschweiz und die Igelschweiz. Vordringlich wäre deshalb eine Debatte, die die beiden Lager zusammenführt. Die “Arena” von heute Abend setzte auf das Gegenteil: Nachdem vor Wochenfrist die Parteipräsidenten ihre Ratlosigkeit wortreich erklären konnten, liess sie heute die beiden Ex-Bundesräte Micheline Calmy-Rey und Christoph Blocher aufeinander los.

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Die meisten europäischen Staaten
verfügen über ein zentrales Element, das sie eint und Identität stiftet: eine gemeinsame Sprache. Nicht so die Schweiz. Sie wuchs trotzdem zu einer vielfältigen Einheit zusammen, weil

– der Druck von aussen zeitweise enorm war (u.a. Deutsch-Französischer Krieg 1870/71, Bismarck, Hitler);
– Mythen und die 1891 eingeführte Bundesfeier die innere Kohäsion stärkte;
– bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die Schweizer Geschichte geklittert wurde.

Der Prozess, bis die Schweizer sich als Schweizer fühlten, dauerte vermutlich gegen 100 Jahre. Die Schweiz ist eine Willensnation. Sie war agil, die Leute sind fleissig und bescheiden, Minoritäten wurden schrittweise eingebunden. Das zeigt sich exemplarisch an der Zusammensetzung der Landesregierung: 1891 erhielten die Verlierer des Sonderbundskriegs von 1847, die Katholisch-Konservativen (die heutige CVP), ihren ersten Bundesrat, 1929 war die SVP an der Reihe, 1943 schliesslich die SP. Auf pragmatische Art und Weise hat man sich in diesem Land immer zusammengerauft und gemeinsam Lösungen erarbeitet.

Die Emanzipation von der Geschichtsklitterung, die die Überlebenschancen unseres Landes verbesserten, setzte erst mit dem Bergier-Bericht in den Neunzigerjahren ein. Die Verklärung der Vergangenheit gehört allerdings immer noch zu unserer DNA, der Rütlischwur bleibt ein populärer Referenzpunkt, auch wenn seine Existenz historisch nicht belegt ist. Gessler und die Habsburgern von damals wurden inzwischen von den “Vögten aus Brüssel” abgelöst. Es sind dankbare Feindbilder, die das “Wir und die Anderen” zementieren.

Und was hat dieser kleine Exkurs mit dem Duell Micheline Calmy-Rey (68) vs. Christoph Blocher (73), das heute Abend in der “Arena” lief, zu tun? Er lässt erkennen, was man in der fragilen Phase, in der unser Land derzeit steckt, besser bleiben lassen sollte. Der Schweizerische Weg betont nicht das Trennende, sondern das Gemeinsame.

Das Line-up der “Arena” war falsch zusammengestellt: Calmy-Rey und Blocher sind zwar faszinierende Persönlichkeiten und gewiefte Debattierer. Aber sie sind Spaltpilze, unversöhnlich und verletzend. Nur schon ihre physische Präsenz in der Fernsehsendung entwickelt Kräfte, die den Graben zwischen den beiden Schweizen noch vertieft. Und dies obwohl der Schlagabtausch der beiden Ex-Bundesräte ausblieb.

Calmy-Rey und Blocher stritten ein wenig über ihr Bild der Schweiz, der Erkenntnisgewinn tendierte allerdings gegen Null. Der Fokus lag wie schon vor Wochenfrist bei der Abstimmung vom 9. Februar; es war erneut eine Chropfleerete. Erst ganz am Schluss wagte man einen Blick in die Zukunft. Dazu hätte man nicht zwei sendungsbewusste Ex-Magistraten im Pensionsalter einladen müssen, eine Runde mit jüngeren Denkern hätte vermutlich mehr gebracht. Katja Gentinetta oder Nicola Forster vom Think-Tank Foraus, um nur zwei Namen zu nennen.

Mark Balsiger

Fotomontage Christoph Blocher & Micheline Calmy-Rey: SRF

 

367 Mal in einer Woche Christoph Blocher

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Seit sieben Tagen
wird das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative vorwärts, rückwärts, im Zickzack und im Chrützlistich dekliniert. Im Brennpunkt fast aller Fragen, Vorschläge, Analysen und Editorials: Christoph Blocher. Der Vizepräsident der SVP Schweiz ist omnipräsent in allen Spalten und Sendungen. Die Schweizer Mediendatenbank (SMD) referenziert innerhalb der letzten sieben Tage nicht weniger als 367 Beiträge, die seinen Namen tragen. Das bedeutet ein neuer Rekord.

Blocher ist zusammen mit Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler zweifellos der faszinierendste, umstrittenste und mächtigste Politiker des 20. Jahrhunderts. Sein Gesellenstück lieferte er 1986 ab: Mit der Aktion für eine neutrale und unabhängige Schweiz (Auns), deren erster Präsident er war, bodigte er und seine Getreuen den Uno-Beitritt der Schweiz. Im Verlauf der schicksalshaften EWR-Abstimmung vom 6. Dezember 1992 wurde er definitiv zur Gallions-, Reiz- und Hassfigur.

Während der darauffolgenden wirtschaftlichen Stagnation versuchten vereinzelte Medien, namentlich der „Tages-Anzeiger“, „Blick“ und „SonntagsBlick“, Blocher systematisch niederzuschreiben. Das Gegenteil trat ein: Der kleine Herrliberger wurde noch grösser.

Wie die verflossene Woche zeigt, geht die Blocher-Fixierung der Medien weiter.

christoph_blocher_spiegel_cover_300_Bildschirmfoto 2014-02-16 um 20.21.23Anders als früher hinterlassen einzelne Aussagen und Auftritte Blochers aber ein verblüfftes Publikum. Im Interview mit der „SonntagsZeitung“ sagte er, die EU könne bei den Verhandlungen mit der Schweiz „nicht als Rosinenpicker auftreten“; im „Spiegel“, der heute erscheint, erklärt Blocher, dass die EU „Bittstellerin“ sei; im Live-Interview von „10vor10“ bei Stephan Klapproth dozierte Blocher, nach dem Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative gäbe es keine Unsicherheit und die Schweiz gehöre nicht zum EU-Binnenmarkt.

Man glaubt sich verhört zu haben. Die Schweiz ist ein Exportland und natürlich hat sie dank insgesamt 120 bilateralen Verträgen uneingeschränkten Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Insgesamt 56 Prozent aller Exporte werden in den EU-27-Raum verkauft. Umgekehrt gehen 8 Prozent der EU-Exporte in die Schweiz. Soviel zum Thema, wer bei den Verhandlungen in Brüssel am längeren Hebel sitzt.

Mark Balsiger


Nachtrag von 19 Uhr:

Das Langzeitgedächtnis regte sich – und tatsächlich: Im Dezember 2003 hatte ich schon einmal über Christoph Blocher und die Medien einen Text verfasst, konkreter: am Tag seiner Wahl in den Bundesrat (10. Dezember). Er erschien als Leserbrief in NZZ und “Bund”:

Blocher und die Medien (PDF)

Der Vorwurf der Blocher-Fixierung kann man mir auch machen. Kein anderer Politiker wurde in diesem Blog öfter thematisiert.

Screenshots:
– 10vor10: Ausgabe vom Montag, 10. Februar 2014
– Spiegel-Cover: Ausgabe vom 17. Februar 2014

Der Preis für die Schönwetter-Rhetorik

Die Prognose vorweg: Die Schweiz wird wegen der Masseneinwanderungs-Initiative nicht untergehen, auch wenn das im Vorfeld ein paar Wirrköpfe aus beiden Lagern behauptet hatten. Aber ein Teil der Brücke nach Brüssel wurde heute abgerissen, der Zugang zum EU-Binnenmarkt steht auf dem Spiel. Für Politik und Wirtschaft ist das Abstimmungsresultat eine Demütigung. Ihre Exponenten haben es verpasst, frühzeitig und ehrlich die negativen Auswirkungen der Personenfreizügigkeit zu thematisieren. Eine Abstimmungskommentar, der nicht ohne Polemik auskommt.

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Auch wenn es immer wieder behauptet wird: Die Schweiz ist in meiner Wahrnehmung kein xenophobes Land, aber: seine Bürgerinnen und Bürger sind zutiefst verunsichert. Das Abstimmungsergebnis mit 50.3 Prozent Ja-Stimmen und 14,5 Ständen zeigt das deutlich auf.

Unser Land wird immer wieder von diffusen Ängsten ergriffen, einzelne Akteure von links und rechts schüren diese gezielt. Seit wenigen Jahren gesellen sich zu den diffusen Ängsten allerdings auch reale Sorgen, die auf eigenen Erfahrungen basieren: Viele Menschen aus fast allen Branchen und Altersgruppen fürchten sich vor Jobverlust, steigenden Mieten, sozialem Abstieg und der ungewissen Zukunft; viele unter ihnen haben Leute in ihrem persönlichen Umfeld, die von diesem Strudel schon erfasst wurden.

Laut dem Seco gibt es derzeit 205’000 Erwerbslose. Diese Zahl hat sich seit der vollen Personenfreizügigkeit für die EU-17-Staaten im Frühling 2007 verdoppelt. 205’000 Menschen suchen in unserem Land Arbeit – es sind IT-Fachleute, Bauarbeiter, Kellnerinnen, usw. –, finden aber keinen Job. An ihrer Stelle rekrutiert man laufend neue Arbeitskräfte im Ausland, zum Teil weil sie besser ausgebildet, vor allem aber weil sie jünger und günstiger sind. Gleichzeitig foutiert sich die Wirtschaft um die Probleme, die so entstehen. Der Bundesrat wiederum zaudert – und zaubert alle paar Monate ein neues Kaninchen aus dem Zylinder. Einmal heisst es “EWR light”, ein anderes Mal “Bilaterale plus”. Das einzige Ziel dieser Übungen: Die Landesregierung will Zeit gewinnen; sie hat keine Strategie, wie die Zusammenarbeit mit der EU weitergehen soll.

Seit nunmehr 15 Jahren werden von Politik und Wirtschaft die Slogans „Erfolgsmodell Schweiz“ und „der bilaterale Weg ist der Königsweg“ gebetsmühlenartig wiederholt, 2007 ist das Schlagwort „Fachkräftemangel“ dazugekommen. Tatsache ist, dass in den letzten Jahren durchschnittlich 80’000 Personen netto zugewandert sind. Längst nicht alle zählen zu den gesuchten Fachkräften, wie das die Schönfärber behaupten. Ein Drittel der Zugezogenen sind Familienmitglieder (Familiennachzug), Tausende versuchen ohne einen Arbeitsvertrag erfolglos ihr Glück (Scheinselbständige), reisen aber nach drei Monaten nicht wieder aus. Tatsache ist, dass die Personenfreizügigkeit in unserem Land eben nicht nur Gewinner produziert, sondern auch Verlierer.

Heute bezahlen Bundesrat und Wirtschaftsverbände den Preis für ihre Schönwetter-Rhetorik. Der Schaden ist angerichtet, und er ist gross. Die Masseneinwanderungs-Initiative ist ein Kuckucksei, das die Zusammenarbeit mit der EU massiv erschwert. Wirtschaftlich sind wir auf einen ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt mit seinen 500 Millionen Menschen angewiesen. Die Personenfreizügigkeit aufkünden wäre eine Zäsur, die Arbeitslosigkeit würde in die Höhe schnellen.

Das Establishment muss sich nun das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wieder erarbeiten. Am Anfang steht eine schonungslos-ehrliche Debatte. Die Frage lautet:

Welche Schweiz wollen wir? Eine Ballenberg-Schweiz? Ein zweites London im Mittelland? Nebst solch radikalen Ideen gäbe es zweifellos auch Optionen, die sich am pragmatischen eidgenössischen Weg orientieren.

Für diesen Weg in die Zukunft bräuchte es einen Pakt der Ehrlichkeit und Verantwortung. Und es bräuchte Haltung. Die Elite aus Politik und Wirtschaft ist herausgefordert, glaubwürdige Szenarien zu entwickeln, stetig zu kommunizieren und schliesslich Schritt für Schritt umzusetzen. Es muss in Zukunft wieder möglich sein, untauglichen Anliegen à la Masseneinwanderungs-Initiative frühzeitig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Mark Balsiger


Nachtrag von 18.20 & 19 Uhr – andere Kommentare:

– (TA, Res Strehle)
Eine Zäsur für die Schweiz (NZZ, Markus Spillmann)
Insel der Einsamen (Südostschweiz, David Sieber)
Jetzt muss Blocher Aussenminister werden (Watson, Philipp Löpfe)

Schweizer Stimmung mit fatalen Folgen (FAZ, Jürgen Dunsch)
Freizügigkeit, nein danke (Süddeutsche, Wolfgang Koydl)
Land des Geldes, Land der Angst (Spiegel online, David Nauer)
Die Schweiz sagt “Fuck the EU” (Die Zeit, Matthias Daum)

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Foto Brücke: srf.ch
Grafik: swissinfo, via electionista

 

 

Die “Arena” hat eine neue Debattenkultur salonfähig gemacht

arena_2_580_sf_tv_121207_arena_sfIn der “Freitagsrunde”, die das Schweizer Fernsehen bis im Sommer 1993 ausgestrahlt hatte, schoben Moderatoren wie Anton Schaller ihre Fragen mit Samthandschuhen von einem Gast zum nächsten. Die Sendungen verliefen ruhig, geordnet, anständig – aus der heutigen Perspektive fad und langweilig. Als vor genau 20 Jahren die “Arena” auf Sendung ging, war die politische Schweiz perplex: Das neue Format war das Gegenteil der “Freitagsrunde”, es setzte auf Konfrontation, Schlagabtausch und Emotionen. Das war neu und verstörend.

Im Parlament wurden Vorstösse eingereicht, um die “Arena” wieder abzusetzen. Der damalige Bundesrat Flavio Cotti boykottierte die Sendung, weil für ihn Politik mehr sei als ein Kampf, um die Zuschauer zu unterhalten. Die Kritik ist bis zum heutigen Tag nie ganz verstummt. Oft gehört: Das verbale Kräftemessen im Sägemehl passe nicht zur Kultur des Dialogs, die in der Schweiz eine lange Tradition habe. Andere monieren, das Format sei verwässert, die Protagnisten würden bloss ihre Botschaften herunterrattern anstatt zu diskutieren.

Hypothese: Die “Arena” hat die Personalisierung vorangetrieben, in den Neunzigerjahren den Aufstieg der SVP begünstigt und die Politik insgesamt geprägt, wenn nicht sogar formatiert. Die Debattenkultur in dieser Sendung wurde zum Standard im Nationalratssaal, auf Podien und anderen Bühnen. Das bedeutet nicht nur eine Verflachung, sondern vor allem auch Verarmung des politischen Diskurses. Die Verrohung davon kann man inzwischen in den Kommentarspalten der Online-Portale verfolgen, wo aus dem Schutz der Anonymität diffamiert und gerichtet wird. Die “Arena” hat diese neue Debattenkultur erst salonfähig gemacht.

Mark Balsiger

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Am Morgen fragte ich auf Twitter, welche Bedeutung die “Arena” habe, was an der Sendung gefalle und was nicht. Eine Art Vox Populi im 140-Zeichen-Korsett:

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Heute Abend um 22.20 Uhr wird die Jubiläumssendung zu 20 Jahre “Arena” ausgestrahlt. Sie dauert ausnahmsweise bis Mitternacht, auch alle ehemaligen Moderatoren sind dabei.

 

Andere Berichte zu 20 Jahre “Arena”:

Wie viele Pültchen dürfen es sein (NZZ, Martin Senti, 22.08.2013)
“Wutausbrüche und Tränen gehören dazu” (Neue Luzerner Zeitung, Sasa Rasic, 22.08.2013)
“Arena” vertreibt Bauernkomplex (Basler Zeitung, Benedict Neff, 23.08.2013)
Wie aus der “Arena” ein Plauderclub wurde (Berner Zeitung, Peter Meier, 23.08.2013)

 

Foto Arena: sf.tv

 

Das Volk will keine Volkswahl

Laut dem “Extrablatt”, das vor vier Wochen in alle Haushaltungen verteilen wurde, geht nun die Schweiz zu Grunde. Der populistische Werbefeldzug verfing ganz offensichtlich nicht, die Initiative für die Volkswahl des Bundesrats erlitt mit 76 Prozent Nein Schiffbruch. Ein Abstimmungskommentar jenseits von Ironie und Polemik.

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VON MARK BALSIGER

Volksinitiativen, die institutionelle Veränderungen anstreben, haben einen schweren Stand. Das zeigt der Blick in die jüngere Vergangenheit:

– Volkssouveränität statt Behördenpropaganda:
75,2% Nein (06/2008)
– Staatsverträge vors Volk:
75,3% Nein (06/2012)

Mit der Volkswahl des Bundesrats zeigt sich dieses Muster erneut: Alle Kantone lehnen die Volksinitiative ab; insgesamt beträgt der Nein-Stimmenanteil satte 76,3 Prozent. Dass sogar die 70-Prozent-Hürde genommen wurde, überrascht mich: Bei der zweiten SRG-Trendstudie von gfsbern sagten noch 66 Prozent der Befragten aus, eher oder bestimmt ein Nein einzulegen.

Den drei vergleichbaren Vorlagen ist gemeinsam, dass sie sich nicht emotional aufladen liessen. Der Versuch, eine Konfliktlinie „classe politique“–Volk zu schaffen, scheiterte. Kommt dazu, dass die SVP auch diesen Abstimmungskampf mit angezogener Handbremse führte. Bereits mit der Lancierung der Volkswahl-Initiative hatte sie lange gezögert.

Das Volk will also nichts von einer Volkswahl wissen. Das Nein ist aus sprachföderalistischen Gründen wichtig, insbesondere das Tessin hätte sich sonst noch ausgegrenzter gefühlt. Das Nein verhindert aber auch einen Dauerwahlkampf à l’américaine, der viele Ressourcen von den Abstimmungskämpfen abgezogen hätte. Und es verhindert, dass Nationalratswahlen zu Ausmarchungen zweiter Klasse werden.

Dass es heute zu dieser Volksabstimmung kam, ist wertvoll. 1998, also vor nicht weniger als 15 Jahren, wurde die Volkswahl an der “Albisgüetli”-Tagung von Christoph Blocher als Idee angestossen, 2009 schliesslich startete die SVP die Unterschriftensammlung. Das Thema ist damit nach 1900 und 1942 zum dritten Mal vom Tisch. Das heutige Abstimmungsresultat stärkt die Position des Bundesrats und die Kohäsion des Landes.


Weitere Beiträge:

Überdeutliche Ablehnung (NZZ, Martin Senti)
“Systematische Fehleinschätzung der SVP” (Interview mit Politologe Adrian Vatter; Newsnet, Mirko Plüss)

Sang- und klanglos (Kommentar NZZ, Martin Senti)
Nicht noch mehr Demokratie (Kommentar TA/Bund, Patrick Feuz)


Fotomontage: soaktuell.ch

 

 

Zur Volkswahl des Bundesrats: Das Argument, das bislang vergessen wurde

Das neue “Extrablatt” der SVP wird zurzeit druckfrisch distribuiert, der Wettstreit der Argumente für und gegen die Volkswahl des Bundesrats ist schon seit einigen Wochen im Gang. Dabei ist bisher ein Argument gegen die Initiative vergessen gegangen: Bei einem Ja würden die Nationalratswahlen komplett in den Hintergrund geraten.

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VON  MARK BALSIGER

Es gibt gute Argumente, am 9. Juni zur Volkswahl des Bundesrats Ja zu stimmen. Sicher das stärkste: Eine Landesregierung, die direkt durch das Volk gewählt wird, ist besser legitimiert als wenn nur 246 Parlamentarier den Wahlakt vornehmen. Dass die Stimmabgabe seit jeher geheim erfolgt und Mauscheleien möglich sind, ist unsäglich. Im Dezember 2011 publizierte ich deswegen einen Meinungsartikel in “Tages-Anzeiger” und “Bund”.

Die wichtigsten Gründe, die gegen die Volkswahl sprechen: Bundesräte stünden im Dauerwahlkampf. Sie wären darauf bedacht, sich ständig unter das Volk zu mischen und populäre Entscheidungen zu fällen. Wohin das führen kann, zeigte der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der aus Angst vor einer Abwahl sein Land 16 Jahre lang verwaltete statt es zu reformieren. Bundesräte wären mit dem neuen Wahlmodus ganz plötzlich vor allem Parteigänger statt Landesväter und -mütter, die Konkordanz würde untergraben.

Der “Wikipedia”-Eintrag fasst Geschichte, Argumente und Initiativtext der Abstimmungsvorlage gut zusammen.

Nun aber zum Argument, das im bisherigen Diskurs nicht aufgegriffen wurde: Kommt die Volkswahl durch, würde der Bundesrat in Zukunft am selben Tag gewählt wie der Nationalrat. Diese Ballung wäre problematisch. Im medialen Fokus stünden dereinst klar die Bundesratswahlen: Die Kandidierenden wären als Wahllokomotiven für ihre Parteien unterwegs, die ohnehin schon ausgeprägte Personalisierung der Politik spitzte sich weiter zu. Die Nationalratswahlen mit ihren vielen Kandidierenden würden in den Hintergrund gedrängt, für die Medien wären sie hinter den Ständeratswahlen nur noch drittklassig.

Diese Entwicklung wäre Gift für die Parteien: Sie durchforsten ihre Umfelder alle vier Jahre auf der Suche nach Chrampfern, hungrigen Jungen, unkonventionellen Köpfen und ambitionierten Talenten. Das ist zwar enorm aufwändig, hält die Parteien aber auf Trab und führt ihnen frisches Blut und neue Ideen zu. Die meisten Politikerinnen und Politiker, die für den Nationalrat kandidieren, wissen, dass sie keine Wahlchancen haben. Sie tun es trotzdem – der Partei zuliebe oder weil sie ihren Bekanntheitsgrad für später – ein anderes Amt – vergrössern wollen. Werden Nationalratswahlen drittklassig, sinkt die Lust vieler potenzieller Kandidierenden, sich zur Verfügung zu stellen. Und damit sterben Wurzeln des bewährten Systems ab. Das kann nicht im Interesse einer lebendigen Demokratie sein.

Die Parteien in der Schweiz sind arm wie Kirchenmäuse. Einzig die SVP kriegt ab und zu ein fettes Stück Käse. Mit der Volkswahl des Bundesrats wären die Kantonalparteien unter Druck, Teile ihrer klammen Budgets an die Wahlkämpfe der Bundesratskandidaten abzuliefern. Dieses Geld würde bei ihren eigenen Kampagnen aber fehlen. Der Einer-Wahlkreis für den Bundesrat würde die 26 Wahlkreise für die Nationalratswahlen in jeder Hinsicht überpowern.

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Weiterführende Links zur Vorlage:

Website der Befürworter (SVP)
Website der Gegner

– Facebook-Gruppe: “Ja zur Schweiz, Ja zur Volkswahl des Bundesrats”
– Facebook-Page: “Nein zur Volkswahl des Bundesrats”

Direkte Demagogie: Kommentar von Martin Senti, NZZ (4. Mai 2013)
NZZ-Dossiers zu den eidg. Vorlagen vom 9. Juni

Volkswahl ist nicht gleich Volkswahl (Tageswoche, Martin Stohler, 23. Mai)

 

Kampagnensujets: von den jeweiligen Websites