Die Zeitungsente, die alle aufgeschreckt hat

Ein Blick in die Schweizer Mediendatenbank zeigt: Seit dem 1. Januar 2020 wurden rund 352’000 Artikel zum Thema «Coronavirus» referenziert. Im Durchschnitt sind das 800 Artikel pro Tag, die in Wellen über uns hinwegrollen. Einige sind von Bedeutung, andere schon Stunden nach ihrer Publikation wieder überholt und vergessen.

Die Story, welche die Tamedia-Zeitungen am Abend des 10. März online und tags darauf in ihren Printausgaben von Winterthur bis Interlaken bringt, ist ein ganz anderes Kaliber. Sie suggeriert, dass es einen schnellen Weg zurück in die Normalität gegeben hätte.

Titel und Lead lassen keine Zweifel aufkommen: Der Bund hat es versemmelt. Gesundheitsminister Alain Berset erkannte im letzten Frühling die Riesenchance nicht, Lonza ein Vakzin aus der Schweiz für die Schweiz produzieren zu lassen. Der eitle, omnipräsente und laut Umfragen beliebteste Bundesrat machte also einen groben Fehler. Skandalös! Beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind die gut bezahlten Bürokraten, wie sie oft genannt werden, schon lange angeschossen. Von ihnen Agilität und Tempo zu erwarten, liegt ausserhalb des Vorstellbaren. Ein explosiver Plott, der in diesem Artikel angerichtet wird.

Die Story geht durch die Decke, Dutzende von anderen Medien greifen sie auf (hier: der «Blick»), das Thema ist gesetzt.

Im Bundeshaus läuft die zweite Sessionswoche, und die Wogen gehen hoch. Die Politik ist aufgeschreckt und macht Lärm, die Fraktionen wollen sich profilieren. So spricht die FDP Schweiz von einem Donnerschlag und verlangt Klärung, «bei Bedarf durch eine PUK», also einer Parlamentarischen Untersuchungskommission, wie sie im Fall Kopp oder bei der Fichenaffäre zum Zuge kam.

Ein paar Tage später wird klar, dass die Tamedia-Story eine Zeitungsente ist. (Die entscheidenden Artikel befinden sich am Ende dieses Postings.)

Vermutlich hilft ein Vergleich: Nehmen wir an, dass Sie an einem schönen Südhang ein neues Haus bauen wollen. In einem solchen Fall verhandeln Sie nicht mit dem Gipser, der auf der Parzelle nebenan arbeitet. Nein, sie verhandeln mit der Architektin, die das Projekt im Auftrag der Bauherrschaft entwickelt.

Lonza ist in der Rolle des Gipsers. In ihrem Werk in Visp produziert sie den Wirkstoff, also bloss einen Teil des Impfstoffs, und das im Auftrag von Moderna. Die Rechte liegen bei der Biotech-Unternehmung aus den USA, sie entscheidet, an wen der Impfstoff verkauft wird.

Berset und die BAG-Spitze hatten im Frühling 2020 keinen Spielraum, um auf eine eigene Produktionsanlage in Visp hinzuwirken. Das wäre auch sehr riskant gewesen, zumal man damals noch nicht wusste, welche Impfstoffe eingesetzt werden können.

Doch der Schaden in der Öffentlichkeit ist längst angerichtet: Das BAG mit Anne Lévy und Nora Kronig im Brennpunkt wird in Kommentarspalten, Leserbriefen und sozialen Medien an den Pranger gestellt. Im Volk sind die Zweifel am Impfplan noch einmal etwas grösser geworden. Und die FDP forderte tatsächlich auf Basis einer Zeitungsente eine Untersuchung, bei Bedarf eine PUK.

Am 16. bzw. 17. März berichten die Tamedia-Zeitungen erneut prominent über den Fall. Konkret korrigieren sie die Story der Vorwoche, nennen das allerdings «neue Recherchen». Sowohl auf ihren Online-Portalen wie im Print platzieren sie eine «Korrektur» (siehe nebenan). Ein aufmerksamer Twitterer weist darauf hin und bringt so den Stein ins Rollen.

Eine Entschuldigung für die schlampige (oder bewusst perfide) Arbeit sucht man vergebens, auch am Tag danach.

Gestern Morgen mailte ich Chefredaktor Arthur Rutishauser und der Medienstelle von Tamedia fünf Fragen zu diesem Fall.

Ich bitte Sie höflich, folgende Fragen schriftlich zu beantworten.

1.  Nehmen bei aufwändigen Recherchen zu heiklen Themen andere Redaktionsmitglieder einen zweiten Faktencheck vor, bevor der Artikel jeweils publiziert wird? Es geht hier explizit um tagesaktuelle Titel, nicht um die «SonntagsZeitung», und es geht um das grundsätzliche Meccano.

2.  Aus welchen Gründen blieb die Zeitungsente vom 10./11. März zunächst unerkannt?

3.  Ist die Reaktion, die Tamedia am 16./17. März mit der Notiz «Korrektur» platzierte, adäquat?

4.  Wie behandelt die Chefredaktion diesen Fall?

5.  Wie reduzieren Sie in Zukunft das Risiko solch gravierender Fehler, die die Glaubwürdigkeit des Journalismus und von Tamedia beeinträchtigen?

Gestern Abend ging Arthur Rutishausers Antwort via Medienstelle ein. Er beantwortet meine Fragen summarisch.

«Wir haben den ursprünglichen Artikel transparent korrigiert und aufgezeigt, was wir darüber wissen wie der Sachverhalt war. Alle involvierten Stellen wurden immer mit allen Sachverhalten konfrontiert und haben teilweise auch Stellung genommen. Offen bleibt, warum in der Schweiz scheiterte, was in den USA funktionierte – und dem gehen wir weiter nach.»

Rutishauser erkennt also keine Fehler seitens der Tamedia-Redaktion, ein schlichtes Pardon bleibt aus.

Die Tamedia-Zeitungsente hat bislang erst «Persönlich», das Portal der Kommunikationsbranche, aufgegriffen. Medienkritik hat es schwer in diesem Land – weil es keine Fehlerkultur gibt. Aber auch heute werden die Wellen wieder 800 neue Artikel zum Thema Coronavirus heranspülen.

*****
Nachfolgend die beiden Artikel der Tamedia-Zeitungen als PDF. Die Namen der beteiligten Medienschaffenden sind eingeschwärzt:

Bund wollte keine eigene Impfstoffproduktion
(11. März 2021)

Warum die Gespräche zwischen Berset und Lonza im Sand verliefen
(17. März 2021)

Von Anfang an einen soliden Job machte die NZZ mit ihrer Einordung:
Der Bund taugt nicht zum Impfstoff-Hersteller
(13. März 2021)

«Die Zukunft des Journalismus entwickelt sich fernab der klickgesteuerten Medienkonzerne»

Mit dem publizistischen Wettbewerb auf dem Platz Bern ist bald Schluss: Die beiden Tamedia-Produkte «Bund» und «Berner Zeitung» werden künftig auch im Lokalen und Regionalen von einer Einheitsredaktion beliefert. Die Antwort darauf muss ein neues Medium sein, das nicht auf Klicks und hohe Renditen fokussiert, sondern Journalismus. Die entscheidende Frage lautet: Was muss ein Online-Magazin bieten, damit die Menschen es wertschätzen? Die Umfrage dazu hat die Bewegung Courage Civil lanciert. Das Medienecho war beachtlich. Der «Kleinreport» stellte mir schriftlich ein paar Fragen, die ich hier zusammen mit den Antworten publiziere.

Kleinreport: Sie führen eine eigene Kommunikationsagentur. Wie bringen Sie sich bei Civil Courage konkret ein?

Mark Balsiger: Von Herbst 2017 bis im März 2018 war ich damit beschäftigt, eine grosse Abstimmungskampagne gegen die No-Billag-Initiative zu führen. Während dieser Phase rauften sich viele Gleichgesinnte zusammen. Daraufhin initiierte ich die Bewegung Courage Civil. Dies im Wissen darum, dass Akteure aus der Zivilgesellschaft glaubwürdige Anker sind. In einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, braucht es Orientierungshilfen. Wir arbeiten daran, sind aber weiterhin selber im Aufbau.

Was ist Ihre Rolle bei dem Online-Projekt? Was wollen Sie erreichen damit?

Vor 12 Jahren initiierte und führte ich das Komitee «Rettet den Bund», weil Tamedia schon damals plante, «Bund» und «Berner Zeitung» zu fusionieren. Dieses Komitee mit seinen mehr als 16’000 Mitgliedern war einer der Gründe, weshalb Tamedia die Fusion schliesslich sein liess. In jener Phase hat sich mein Bewusstsein weiter geschärft, wie wichtig unabhängige Medien sind. Jetzt, wo die Vollfusion beschlossene Sache ist, fühle ich mich gegenüber dem Komitee von damals verpflichtet, beim Ausloten von neuen Möglichkeiten mitzuwirken.

Civil Courage wurde 2018 im Abstimmungskampf um «No Billag» gegründet. Was hat der Verein seither getan? Was ist seine Message?

Die Bewegung Courage Civil ist eine zivilgesellschaftliche Organisation, bei der drei verschiedene Generationen mitmachen. Sie ist seit Herbst 2018 operativ und fokussiert auf drei verschiedene Bereiche: Unabhängige Medien, eine offene Schweiz sowie Grundrechte, Gewaltenteilung und Rechtssicherheit. Seit der Gründung 2018 haben wir eine Abstimmungskampagne gegen die Selbstbestimmungsinitiative (2018) und gegen die Begrenzungsinitiative (2020) geführt. Zudem weisen wir unverdrossen darauf hin, dass Diskussionen online und offline von Anstand und Respekt geprägt sein sollte. Die Verrohung hat sich während der Pandemie nochmals verstärkt, aber aufgeben ist keine Option. Sie dürfen uns nun Gutmenschen nennen, wohlan!

Etwas überrascht waren wir ehrlich gesagt schon vom Vorgehen von Courage Civil. In der Regel wird erst dann so ausführlich über ein Projekt kommuniziert, wenn es in den Startlöchern steht oder wenn zum Crowdfunding aufgerufen wird – und nicht schon dann, wenn abgeklärt wird, ob es überhaupt eine Nachfrage auf dem Markt gibt. Selbst die SDA hat es aufgegriffen. 

Auf dem Medienplatz Bern gärt es schon seit Langem. Der Gärungsprozess hat sich beschleunigt, seit die Tamedia-Manager im letzten Herbst ankündigten, «Berner Zeitung» und «Bund» komplett zu fusionieren. Bislang gab es im Grossraum Bern noch publizistische Konkurrenz; diese fällt mit der Einheitsredaktion dahin. Das «Berner Modell», das der legendäre Verleger Charles von Graffenried 2003 lancierte, ist tot. Demokratiepolitisch ist diese Monopolsituation bedenklich, das Unbehagen gross. Deshalb haben wir jetzt eine Umfrage lanciert, die zum Glück von der Nachrichtenagentur Keystone-SDA, wie sie ja seit 2018 heisst, aufgegriffen und verbreitet wurde.

Was werden die nächsten konkreten Schritte nach der Umfrage sein?

Mit unserer Umfrage loten wir aus, ob es ein Bedürfnis nach einem neuen unabhängigen Online-Magazin gibt. Wenn es weitere Medienprojekte für den Grossraum Bern geben sollte, ist es jetzt wichtig, dass sich die Leute, die dahinterstehen, regelmässig austauschen. Es hat nur Platz für ein neues Medium im Grossraum Bern. Beginnen zwei oder drei Start-ups gleichzeitig, gewinnt der Platzhirsch, und dieser heisst auch mit der Einheitsredaktion weiterhin Tamedia.

Wie wollen Sie ein neues Medium auf dem ausgetrockneten Medienmarkt finanziell stemmen?

Andere Medien-Start-ups wie zum Beispiel die «Republik», «bajour» in Basel oder «tsüri» zeigen, dass es ein Bedürfnis gibt. Ob sie sich auf die Dauer finanzieren können, werden wir sehen. Die Zukunft des Journalismus ist lokal und regional – und er entwickelt sich fernab der Medienkonzerne, die primär auf Klicks und grosse Renditen aus sind. Wenn die Kleinen aus verschiedenen Ballungsräumen kooperieren, bringt das allen etwas, gerade auch der Leserschaft.

Im fünfköpfigen Vorstand von Courage Civil findet sich laut Website keine einzige Journalistin/Journalist. Wie kann das sein, dass ein Verein ein journalistisches Produkt auf den Medienmarkt bringen will, in dessen Führungsgremium die journalistische Expertise nicht vertreten ist?

In unserer Medienmitteilung thematisieren wir den ersten Schritt, eben diese Umfrage. Weitere Schritte folgen, wenn die Beteiligung gross ist und alle Interessen gebündelt werden können. Wenn Courage Civil auch bei den weiteren Schritten dabei sein sollte, können wir uns auf das Knowhow einiger Mitglieder abstützen, die sehr viel Erfahrung im Medienbereich haben. Wo nötig, ziehen wir die Expertise von weiteren Fachleuten bei. Das Bedürfnis nach unabhängigem Journalismus ist am Wachsen. Davon können hoffentlich alle neuen Projekte profitieren.

Was der «Kleinreport» aus diesem Rohstoff machte, lesen Sie hier.

«Bund» und «Berner Zeitung» verschmelzen komplett

Der grösste Medienkonzern der Schweiz, die TX Group, will in Bern nun also auch noch die bislang eigenständigen Regionalredaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung» komplett verschmelzen. Der identische Inhalt soll in beiden Titeln in ihren altbekannten Layouts verbreitet werden. Der Fusionsprozess beginnt im April nächsten Jahres. Auf dem Medienplatz Bern entsteht damit ein Monopol. Demokratiepolitisch ist das problematisch.

Zunächst ein paar Fakten und Zusammenhänge:

– In den letzten fünf Jahren hat die TX Group (früher Tamedia) einen Reingewinn von 852 Millionen Franken erwirtschaftet (Geschäftsjahre 2015 bis 2019). Das freute die Aktionäre und das Management, welches zum Teil fette Boni erhielt. In die Stärkung der Zeitungen, die seit Jahrzenten (und immer noch) Gewinne machen, wird hingegen nicht investiert.

– Im Frühling beantragte TX Group Kurzarbeit. Trotz Kritik im Vorfeld der GV wurde an einer Dividende in derselbe Höhe wie in den Vorjahren festgehalten. Auf nationaler Ebene ist seit Jahren ein intensives Lobbying für staatliche Unterstützung der grossen Medienhäuser im Gang.

– In den letzten Jahren wurde die ohnehin schon schwach dotierten Regionalredaktionen von «Bund» und «Berner Zeitung» weiter schleichend ausgedünnt (z.B. werden Abgänge teilweise nicht mehr ersetzt). Schon vor drei Jahren hatte ich vor der kompletten Fusion gewarnt.

– Eine Befragung von 4000 Abonnentinnen und Abonnenten, die wir 2009 seitens des Komitees «Rettet den Bund» durchgeführt hatten, zeigte auf, dass das Ressort Bern für sie am wichtigsten ist (zusammen mit dem Ressort Inland). Die Konzernspitze foutierte sich um diesen klaren Befund.

– Dass es sich lohnt, in Personal und Qualität zu investieren zeigt das Beispiel der «Zeit». Die Wochenzeitung aus Hamburg hat heute eine grössere Auflage als vor 20 Jahren. In unserem Land konnte dieser Qualitätstitel seine Abonnentenzahl in den letzten zehn Jahren massiv erhöhen – auch dank drei Schweiz-Seiten pro Ausgabe. Guter Journalismus ist gefragt. Er darf etwas kosten und rentiert.

– Vor vier Wochen gratulierte Verwaltungsratspräsident Pietro Supino in einem Gastbeitrag dem «Bund» zu seinem 170-Jahre-Jubiläum. Er sei stolz, diesen Titel in seinem Portfolio zu haben. Zugleich drohte er der Politik unverhohlen: Wenn das Medienförderungsgesetz nicht in seinem Sinne ausgestaltet werde, sei der Fortbestand des «Berner Modells» (beide Zeitungen werden unter einem Dach herausgegeben, bleiben aber publizistisch unabhängig) nicht mehr gesichert.

Meine Einschätzung: Die beinharten Medienmanager interessieren sich nicht für Publizistik. Es geht ihnen nur um Rendite. Sie glauben daran, dass diese mit knalligen Storys, vielen Clicks und direkt verknüpfter Werbung eingefahren wird. Unternehmungen sollen Gewinn machen, keine Frage. Allerdings zweifle ich daran, dass Journalismus gleich produziert und verkauft werden sollte wie Billig-Hundefutter.

Ob in der Bundesstadt der Einheitsbrei goutiert wird, ist offen. Der «Bund» bedient ein urbanes Publikum, die «Berner Zeitung» ein ländliches.

Ich bin nicht Gewerkschafter, sondern ein besorgter Staatsbürger, der seine Augen nicht vor der Realität verschliesst: Im Mediengeschäft herrscht ein intensiver Verdrängungskampf, die Auflagen der gedruckten Zeitungen sinken, die Werbeeinnahmen brechen weg, Die vier Tech-Giganten Google, Amazon, Facebook und Apple – auch GAFA genannt – machen den grossen Reibach. Während Jahrzehnten bildeten die Rubrikeninserate für Immobilien, Autos, Stellen, käufliche und ewige Liebe das ökonomische Rückgrat für die Zeitungen. Inzwischen sind sie fast komplett ins Netz abgewandert, wo sie deutlich weniger abwerfen.

Nur: «Berner Zeitung» und «Bund» waren in den letzten Jahren wie alle anderen Titel im Tamedia-Portfolio profitabel, die Renditen gemäss Medienökonomen höher als während den goldenen Zeiten der Zeitungen ohne Internet. Einen Teil der Gewinne hätte man in die beiden Regionalredaktionen investieren können – nein, müssen! Stattdessen wurden beim «Bund» immer weiter Stellenprozente reduziert. Und bei der «Berner Zeitung» fiel die Wochenendbeilage «Zeitpunkt», während vieler Jahre ein leuchtendes Beispiel für Qualitätsjournalismus, dem Sparhammer zum Opfer.

Der Ausblick: Im Grossraum Bern mit seinen rund 350’000 Menschen hat es Platz für ein neues Online-Magazin, das unabhängigen Qualitätsjournalismus liefert. Nochmals auf Tamedia/TX Group zu setzen wäre falsch, es braucht ein Medium von Bern für Bern. Start-ups in anderen Ballungsräumen zeigen, dass das Interesse an einem anderen Journalismus vorhanden ist, etwa «Tsüri» (Zürich), «bajour» (Basel), «Die Ostschweiz» (St. Gallen) oder «ZentralPlus» (Zentralschweiz).

Was es jetzt braucht, sind Leute mit Knowhow, Zeit und Kapital, die ein neues Kapitel Berner Mediengeschichte schreiben wollen. Wenn es gewünscht sein sollte, koordiniere ich die ersten Schritte dafür. Vom Komitee «Rettet den Bund» her haben wir viele Adressen zur Verfügung. Das ist ein Start.

Nachtrag:
Eine ausgesprochen solide Zusammenfassung zu den Herausforderungen auf dem Medienplatz liefert Nick Lüthi in der «Medienwoche».
– Was ich Radio SRF4 News zu dieser Fusion sagte – das Interview von Medienredaktor Salvador Atasoy auf Soundcloud
(30. Oktober 2020)
– Meine E-Mail-Adresse: mark.balsiger@border-crossing.ch

Die SP und ihr Stapi-Trauma

Niederlagen bei Wahlen sind schmerzhaft. Es kommt vor, dass die Wunden auch Jahre später immer wieder aufplatzen. Exemplarisch ist der Fall der Stadtberner SP, der im Januar 2017 das Stadtpräsidium nach 24 Jahren entrissen worden war. Statt Ursula Wyss wurde damals Alec von Graffenried von der kleinen Grünen Freien Liste (GFL) gewählt.

Seither wabern immer wieder Gerüchte und Verschwörungstheorien durch die Lauben. Einige SP-Mitglieder zürnen der Zeitung «Der Bund», weil diese mit Kampagnenjournalismus die Nichtwahl von Wyss herbeigeschrieben habe, so der Vorwurf.

Letzte Woche goss der ehemalige «Bund»-Redaktor Basil Weingartner Öl ins Feuer. Auf seinem persönlichen Twitter-Konto veröffentlichte er einen elfteiligen Thread, in dem er «Bund»-Chefredaktor Patrick Feuz als Strippenzieher der von-Graffenried-Kampagne darstellt. Beweise kann er keine liefern, aber ein Teil der SP-Community teilte und kommentierte seine Tweets eifrig.

Feuz nennt die Vorwürfe Weingartners auf Anfrage «happig und haarsträubend». Und er dementiert: «Es gab vor den Wahlen 2016 ein einziges Treffen mit von Graffenried. Als wir das Gerücht seiner allfälligen Kandidatur vernahmen, haben wir ihn zu einem Gespräch eingeladen, um herauszufinden, ob etwas daran ist. Das Gespräch hatte nichts Klandestines, es fand in meinem Glasbüro statt, für die ganze Redaktion sichtbar – also kein schummriges Hinterzimmer-Treffen.»

Es steht Aussage gegen Aussage. Was stimmt, weiss ich nicht. Was ich weiss: Weingartners Abgang beim «Bund» im Frühling 2018 geschah nicht ganz in Minne, wie er selber bestätigt. Er vertrete im Übrigen eine andere politische Linie als Chefredaktor Feuz, fühle sich aber weder der SP noch der GFL nahe. Sein Twitter-Thread, der sich stellenweise liest wie ein Krimi, sei kein Nachtreten, erklärt er auf Nachfrage. «Ich tat es aus Pflichtgefühl.»

Viele politisch Interessierte haben ihre eigene Wahrheit zu diesem Fall. Auffallend ist die Wut, die dem «Bund» von einzelnen SP-Mitgliedern noch heute entgegenbrandet. Er sei ein «Drecksblatt», ereifern sie sich. Andere haben das Abo abbestellt. Für sie ist die Nicht-Wahl von Wyss mehr als eine Kränkung. Sie ist ein Trauma.

Richten wir unseren Fokus auf die zentralen Punkte, um den Fall einzuordnen:

Hat eine Zeitung so viel Macht, um jemanden in ein politisches Amt zu hieven?
Mich übermannen heftige Zweifel, zumal die Forschung dafür keine Nachweise liefert. Medien können Themen setzen, klar, und sie haben Deutungsmacht. Aber ihr Einfluss auf den Wahlausgang ist zu bescheiden, weil die Schweizerinnen und Schweizer schlicht sehr unabhängig sind und ihre Entscheidung auf Basis vieler Faktoren fällen.

Vorwurf 1: Der «Bund» hat 2016 eine Kampagne gegen Ursula Wyss gefahren.
Im Stadtberner Wahljahr 2016 las ich vermutlich alle Artikel, die der «Bund» und die «Berner Zeitung» darüber publizierten, und muss diesen Vorwurf zurückweisen. Natürlich fiel mir auf, dass der «Bund» im Rahmen des Tolerierbaren von Graffenried als Stadtpräsidenten favorisierte, währenddessen die BZ Wyss als geeigneter einstufte. Diese Erkenntnis ist nicht trivial, weil beide Zeitungen ungefähr dieselbe Reichweite in der Bundesstadt haben. Die Empörten im SP-Lager blenden den Support der BZ kategorisch aus.

Vorwurf 2: Der «Bund» betreibt seit Jahren eine Anti-SP-Kampagne.
Diese Kritik fällt regelmässig im Gespräch mit SP-Leuten und auf Social Media. Exemplarisch das Facebook-Posting von David Stampfli, Grossrat und Parteisekretär der Kantonalpartei. Er unterstellte der Zeitung am 28. September sogar, die Resultate der jüngsten Bieler Wahlen absichtlich verdreht zu haben, was jemand trocken mit «Paranoia» kommentierte.

Natürlich: Medien unterlaufen inzwischen zu viele Fehler, nicht nur wegen knappen Ressourcen und hohem Produktionsdruck. Sie treiben immer mal wieder eine Sau durchs Dorf, lancieren Kampagnen, wie zum Beispiel gegen den Genfer Staatsrat Pierre Maudet oder die Zugerin Jolanda Spiess-Hegglin. Manchmal bringen die Recherchen und Enthüllungen die Wahrheit an den Tag, manchmal führen sie zu grossen Verletzungen.

Medien haben den Auftrag, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Auf nationaler Ebene ist die SVP seit 1999 die wählerstärkste Partei; sie steht unter Dauerbeobachtung und Dauerkritik der Medien.

In der Stadt Bern ist die SP seit Jahrzehnten eine 30-Prozent-Partei und damit mit Abstand die stärkste Kraft. Ihr Wirken wird genauer beobachtet als dasjenige der Kleinparteien. Wenn «Bund»-Chefredaktor Feuz in einem Leitartikel schreibt, die städtische SP sei «selbstherrlich» geworden, jaulen viele Parteimitglieder auf. Womöglich wünschen sie sich die Neunzigerjahre zurück, als der «Bund» das Bündnis von Rot-Grün-Mitte (RGM) und damit die SP wohlwollend, wenn nicht sogar unkritisch begleitet hatte.

Ich finde den Kampagnen-Vorwurf seitens der SP dünnhäutig und billig – Hofberichterstattung oder eine Wiederbelebung der drögen Parteizeitungen sind keine Optionen! Sollte die SP bei den Gemeinderatswahlen am 29. November einen ihrer beiden Gemeinderatssitze verlieren, wäre der Sündenbock schnell gefunden: Klar, der «Bund» ist schuld. Das würde in das bequeme Narrativ passen, das seit Jahren gepflegt wird.

Schliesslich ein Blick auf nüchterne Zahlen: Die SP erreichte bei der Machtübernahme von RGM am 6. Dezember 1992 einen Wähleranteil von 27,4 Prozent, 2004 waren es 29,1 Prozent, 2016 schliesslich 28,7 Prozent. Wenn der «Bund» tatsächlich versucht haben sollte, die SP nieder zu schreiben, war er dabei hochgradig erfolglos. So viel zur «Macht» einer Zeitung.

Weshalb verlor die SP bei den letzten Wahlen das Stadtpräsidium?
Wie ich hier im Januar 2017 analysierte, hatte Wyss’ Kandidatur ausserhalb der eigenen «Bubble» vielerorts Abwehrreflexe ausgelöst. Entscheidender war aber ein anderer Punkt: 1992, 1996, 2000, 2004, 2008 und 2012 brachte die SP ihre Stapi-Kandidatur stets problemlos durch, weil das RGM-Bündnis sich immer darauf geeinigt hatte, nur eine Kandidatur zuzulassen – diejenige des Platzhirschs.

Es ist legitim, wenn die klar stärkste Partei das Stadtpräsidium für sich reklamiert. Doch 2016 liess sich die SP-Spitze von den beiden grünen Bündnispartnerinnen austricksen.

Der Mastermind, der 2015/2016 im Hintergrund für GFL-Mann von Graffenried die Fäden zog, heisst Blaise Kropf (Bild) und ist Mitglied beim Grünen Bündnis (GB). Er hatte frühzeitig erkannt, wie man Kronfavoritin Ursula Wyss abfangen kann. Während andere noch GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy oder den weitherum geschätzten Unternehmer Peter Stämpfli beknieten, bereitete er das Terrain vor. Die Kampfkandidatur durfte nicht bürgerlich sein, sondern musste aus dem RGM-Block stammen. Alec von Graffenried, hervorragend vernetzt, jovial und politisch sehr weich gezeichnet, war die ideale Figur für dieses Unterfangen.

Damit sind wir bei Franziska Teuscher (GB) angelangt, die unwissentlich eine Schlüsselrolle spielte. Sie warf den Hut als Zweite in den Ring, obwohl sie gar nicht Stadtpräsidentin werden wollten, sondern damit die Chancen für ihre Wiederwahl als Gemeinderätin optimierte. Wegen ihrem Vorpreschen wurde der Weg für von Graffenried frei: Wenn das RGM-Bündnis zwei Stapi-Kandidaturen erlaubt, kann es einen Dritten kaum mehr verhindern, zumal GFL und GB praktisch gleich stark sind.

Kropfs Strategie ging also auf. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Ausgerechnet ein Mitglied des GB – der Frauenpartei! – erarbeitete den Masterplan, um die erste Stadtpräsidentin Berns zu verhindern!

Am Verhandlungstisch pokerte die GFL-Spitze hoch und riskierte sogar das definitive Zerbrechen des RGM-Blocks. Nachdem die 10-Prozent-Partei seit dem Jahr 2000 stets nur Wasserträgerin gewesen war, gewann sie zum ersten Mal.

Abschliessend eine Handlungsempfehlung für SP-Mitglieder, die Legendenbildung betreiben und «Dreckszeitung» sagen:

1.  Durchatmen, Sportsgeist zeigen und die Fakten zur Kenntnis nehmen: von Graffenried ist nicht das «Werkzeug» der Bürgerlichen, sondern ein blasser Grüner, der von einem brillanten Strategen lanciert worden war. So holte er bei den Gemeinderatswahlen auf den RGM-Listen nur 554 Stimmen weniger als Wyss, aber 1166 mehr als Michael Aebersold (SP). Bei den Stapi-Wahlen distanzierte von Graffenried Wyss schon im ersten Wahlgang um rund 1400 Stimmen, im zweiten Wahlgang baute er seinen Vorsprung auf fast 6500 Stimmen aus.

2.  Eine Medienanalyse würde der SP helfen – entweder vom Wahljahr 2016 oder dem aktuellen -, um ihr Traum zu überwinden. Einzelne Institute an Universitäten und Fachhochschulen haben Erfahrung damit. So läge schliesslich eine Studie vor, die aufzeigt, ob der «Bund» tatsächlich einen «Bias» hat.

3.  Sie sollten sich ein Beispiel an Ursula Wyss nehmen. Diese steckte ihre Niederlage weg, wandte sich ihren Dossiers zu und machte das, was man in einer Exekutive tun sollte: mit einem klaren Kompass und durchsetzungsstark gestalten. Was sie erreicht hat, ist beeindruckend. Sie liefert, während die Dauerempörten in ihrer Partei immer wieder am «Liire» sind.

Mark Balsiger


Transparenz:

– Meine Firma hat in den letzten zehn Jahren keine Mandate von Stadtberner Parteien und von Einzelpersonen innegehabt, die in diesem Posting genannt werden.
– Als Tamedia Ende 2008 den Plan schmiedete, den «Bund» und die «Berner Zeitung» zu fusionieren, initiierte ich das Komitee «Rettet den Bund». Das führte 2008/2009 für mein kleines Team zu 1200 Stunden Fronarbeit.
– Bei den Stapi-Wahlen 2016/17 schrieb ich im ersten Wahlgang den Namen von Graffenried auf meinen Zettel, beim zweiten denjenigen von Wyss.

Gewaltenteilung ist ein Grundpfeiler der Demokratie

Es ist ja nicht so, dass 1848 die Demokratie vom Himmel gefallen wäre und von Anfang an reibungslos funktionierte. Vielmehr mussten kluge Köpfe damals Grundrechte und Gewaltenteilung erkämpfen, die erste Bundesverfassung war ein Wurf.

Die Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats sollten aber immer wieder überprüft, neu verhandelt und ergänzt werden. Ein paar Meilensteine:

– die Einführung des fakultativen Referendums (1874);
– die Religionsfreiheit (1874);
– die Einführung der Volksinitiative (1891);
– das Proporzwahlrecht bei Nationalratswahlen (1918);
– die Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Landessprache (1938);
– die Schaffung des Kantons Jura (1979);
– der Beitritt zu den Vereinten Nationen (UNO; 2002).

Starke Minderheiten wurden schrittweise in den zunächst rein freisinnig-liberal dominierten Bundesrat integriert: 1891 die Katholisch-Konservativen (die heutige CVP), 1929 die Bauern-, Gewerbe und -Bürgerpartei (BGB; die heute SVP), 1942 schliesslich die SP.

All das waren weise Entscheidungen, die das politische System der Schweiz ausgesprochen stabil mach(t)en und dem Volk zugleich viel Verantwortung überträgt. Ebenso wichtig sind der Rechtsstaat und die Gewaltenteilung.

Morgen will die SVP-Fraktion im Bundeshaus einem ihrer zwölf Bundesrichter die Wiederwahl verwehren. Das ist ein Versuch, die eigenen Leute ans Gängelband zu nehmen. Diese sollen politisch entscheiden, findet die SVP, obwohl die Bundesverfassung festhält, dass die Richterinnen und Richter unabhängig sein müssen. Das ist eine gefährliche Entwicklung, und wir müssen resolut dagegenhalten!

Zwei Dinge sollten allerdings in den nächsten Monaten neu verhandelt werden:

– Es ist problematisch, dass die Bundesrichterinnen und -richter ihren Parteien jedes Jahr happige Abgaben entrichten müssen. Solche Mandatsabgaben – zwischen 5 und 15 Prozent des Lohns – gibt es in keinem anderen europäischen Land.

– Die Mitglieder des Bundesgerichts müssen alle sechs Jahre wiedergewählt werden. Damit sind sie abhängig von ihren Parteien, wie das aktuelle Beispiel zeigt. In Deutschland werden die Richterinnen und Richter auf Lebzeiten gewählt.

Die Justizinitiative, die u.a. diese beiden Bereiche aufgreift, gibt uns Gelegenheit, Pro und Contra abzuwägen.

Über diese und andere Punkte diskutierte ich gestern in der Sendung «TalkTäglich» der «CH-Media»-Regionalsender von St. Gallen bis Bern – zusammen mit Alt-Nationalrat Christoph Mörgeli.

Bei dieser Story ging es um Clickbaiting

Push-Nachrichten, News, Live-Ticker, Grafiken, Interviews, Reportagen, Kommentare, Einordnungen – schon seit Wochen fahren die Medien die Corona-Krise riesig. Dass sie einen soliden Job machen, notierte ich schon vor zwei Wochen. Es gibt allerdings auch immer wieder Ausreisser. Einer dieser Ausreisser greife ich hier exemplarisch auf.

Das ist die Frontseite des «SonntagsBlick». Derselbe «Aufmacher» ist auch beim Online-Portal blick.ch prominent platziert.

Die Schlagzeilen lassen keine Zweifel aufkommen, zumal sie mit einem Aufrufezeichen ergänzt sind. Der Lockdown bis Ende Sommer wird als Faktum dargestellt. (Nachtrag: Die kleingedruckte Oberzeile, also in diesem Fall «Stadt Zürich rechnet mit», wird von Medienschaffenden als «Mogelpackung» bezeichnet.)

Click, click, click – die Story dreht online gut, wie man dem im Medienjargon sagt. In den sozialen Medien wird sie kontrovers diskutiert. Ein Wort fällt dabei oft: «Panikmache.» Tatsache ist, dass der «Lockdown bis Ende Sommer!» auf einem internen Dokument basiert, das mehrere Szenarien beinhaltet.

Auf meine Nachfrage reagierte die Ringer-Medienstelle gestern Abend schriftlich: Es handle sich um «keine Zuspitzung», auf den Zusatz «Stadt Zürich rechnet mit» verweisend. Der Reporter, den ich persönlich nicht kenne, hatte sich bereits am Sonntagabend mit einer Twitter-Direktnachricht bei mir gemeldet. Er replizierte auf meine Kritik, die ich am Sonntagnachmittag mit einem Tweet kundtat. Diese Rechtfertigung weckte meine Neugierde.

Im Artikel wird aus einem vertraulichen Dokument von Schutz & Rettung Zürich zitiert. Diese Organisation umfasst Feuerwehr, Rettungsdienst, Zivilschutz, Einsatzleitzentrale und Feuerpolizei der Stadt Zürich sowie die Rettungsorganisationen des Flughafens Zürich. Ihr Lagebericht oder Teile davon fanden den Weg zum «Blick». Das nennt man Reporter-Glück. Als Kernstück für eine grosse journalistische Geschichte taugt ein solches Papier allerdings nicht.

Während Krisenzeiten ist es die Aufgabe solcher Organisationen, stetig mehrere Szenarien zu antizipieren, schriftlich festzuhalten und anderen Akteuren weiterzuleiten. Was sie schreiben, stimmt während dynamischen Krisen für den Moment. In der Schweiz weiss niemand, wie die Corona-Krise sich entwickeln wird. Für evidenzbasierte Prognosen ist es noch zu früh.

Damit zum zweiten Teil meiner Medienkritik: Der «Blick»-Reporter stützt sich auf einen veralteten Lagebericht ab. Er wurde am Dienstag, 24. März, verfasst, was im Artikel auch steht. Was dort aber nicht steht: Der Lagebericht wird täglich überarbeitet. Das hielt Schutz & Rettung auf Anfrage fest.

Der «Blick»-Mann stand im Verlaufe seiner Recherche nie in Kontakt mit der Medienstelle von Schutz & Rettung. Das ist fahrlässig. Korrekt und fair wäre es gewesen, sie für eine Stellungnahme anzufragen und die aktuelle Lage in Erfahrung zu bringen, idealerweise zeitnah zur Publikation, also am Samstag. Weder der Reporter noch die Ringier-Medienstelle beantworteten die Frage, weshalb er darauf verzichtet hatte.

Fazit: Auch in Krisenzeiten sollen Medien mit professioneller Distanz über die Arbeit der Behörden berichten. Es ist allerdings unabdingbar, dass sie sauber recherchieren und einordnen. Das war bei dieser Story nicht der Fall. Vielmehr ging es um das Bewirtschaften von Emotionen. Und es ging um Clickbaiting. Berufsethisch ist das Vorgehen des Reporters problematisch. Das vierseitige Dokument «Rechte und Pflichten der Journalistinnen und Journalisten» kann hier als PDF beim Berufsverband «impressum» heruntergeladen werden.

P.S.
«Blick»-Bashing hat eine lange Tradition. Mir ist das seit jeher zu einfach und ich halte fest, dass «Blick» viele ausgezeichnete Journalistinnen und Journalisten beschäftigt. Es gibt andere Medien und Sendungen, die ebenso fahrlässig recherchieren und halbgare Themen «hochjazzen», wie ich es in diesem Beispiel aufzeige. Einzelne Verfehlungen griff ich auf, etwa von der «Sonntags-Zeitung», der NZZ (über einen Leitartikel des Chefredaktors), der «Schweiz am Wochenende» oder der SRF-«Rundschau».

In der Krise zeigt der Bundesrat Führungsstärke

Die Corona-Welle überrollt die Schweiz, viele Menschen reagieren verunsichert. Der Bundesrat steht vor seiner grössten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg: Er muss das Land durch diese schwierige Zeit navigieren und die Leute mitnehmen. Die Kommunikation ist ihm bislang überzeugend gelungen. In der Krise zeigt die Regierung plötzlich Führungsstärke.

Die erste Welle der BAG-Informationskampagne ist kein Wurf, aber sie knallt – fürs erste in Gelb. An der Südgrenze werden Ende Februar an Bahnhöfen und Tankstellen 200’000 Flyer verteilt mit den Piktogrammen «Händewaschen», «Abstand halten» und «zu Hause bleiben». In derselben Phase treten Gesundheitsminister Alain Berset und Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) ein erstes Mal vor die Medien. Sie verkünden die «besondere Lage» gemäss Epidemiengesetz. Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen sind ab sofort verboten. Ein Murren geht durchs Land, aber das Verständnis für die Einschränkung überwiegt.

Bis zum 20. März folgen vier weitere Medienkonferenzen, der Bundesrat ist jeweils mit bis zu vier Mitgliedern vertreten. Jedes Mal werden weitergehende Massnahmen verfügt. Als er am 16. März die «ausserordentliche Lage» bekanntgibt, spürt man am Ende vieler Sätze ein Ausrufezeichen. Es ist ein eindringlicher Appell an die Nation, und er wird verstanden. In normalen Zeiten hätte man die Landesväter und -mütter als schulmeisterlich kritisiert. In dieser Situation lauten die Prädikate: klar und führungsstark.

 

Am nächsten Abend, wenige Sekunden vor dem «Echo der Zeit» von Radio SRF, ertönt unverhofft eine monotone Stimme: «Empfehlung des Bundesrats: Bleiben sie zu Hause! Insbesondere wenn sie alt oder krank sind!» Würden draussen noch die Sirenen heulen, wähnte man sich im Krieg. Dieselbe Information läuft seither vor jedem Nachrichtenbulletin und auch während Spielfilmen am Fernsehen wird sie eingeblendet.

Google, Twitter und Instagram installieren in Absprache mit den Behörden ein Aufklärungstool, das User nach dem Eintippen von Schlüsselwörtern rund um das Coronavirus direkt zu den Informationen des BAG weiterleitet. Vergleichbares geschieht auf Facebook und Youtube, dort ist allerdings die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Lead. In der Informationskampagne des BAG wechselt die Signalfarbe Anfang März von Gelb auf Rot. Die Werbemittel haben nun sechs Piktogramme und werden im ganzen Land massiert eingesetzt.

Der Bundesrat informiert die Medien stetig und nutzt dabei auch seinen Youtube-Kanal, um die Bevölkerung direkt zu erreichen. Das wirkt vertrauensbildend. Bei seinen Auftritten wirken die Regierungsmitglieder entschlossen, sie kommunizieren klar und überzeugend. Keine Zweifel, die Landesregierung hat das Heft in die Hand genommen, führt top-down und setzt sich durch. In einem durch und durch föderalistischen Land passt das auch jetzt nicht allen. Wenn es sein muss, werden sogar Kantone zurückgepfiffen, wie jüngst das Tessin und Uri oder die Gemeinde Bagnes (VS). Dass die Websites der Bundesverwaltung einmal während mehreren Stunden «down» waren – vergessen. Dass Bundeskanzler André Simonazzi Twitter nicht geschickter nutzt – kein Thema. Dass das BAG laut einer Recherche der «Republik» mit einem veralteten Meldesystem arbeitet – eine Randnotiz.

Bislang hat die Regierung mit viel Fingerspitzengefühl antizipiert, was verhältnismässig ist. Sehr heikel war die Schliessung der Schulen. Diese Entscheidung wurde nicht auf der Basis von Studien getroffen, sondern war nur politisch motiviert. Weil die meisten Nachbarländer ihre Schulen bereits geschlossen hatten, war der Druck zu gross geworden. Ein anderes Beispiel ist der Ruf nach einer Ausgangssperre, der vor allem in der Westschweiz laut wurde. Der Bundesrat blieb bisher standhaft, verbot aber Ansammlungen von mehr als fünf Personen. Insgesamt zeigt der Bundesrat bislang das, was er vorab im Europadossier seit Jahren vermissen lässt: Führungsstärke.

Einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kritisieren: «Too little, too late!» Ihre Aussagen multiplizieren sich in den sozialen Medien. Aus epidemiologischer Sicht haben sie vielleicht recht. Aber nehmen wir einmal an, die Landesregierung hätte den «Lock Down» bereits Ende Februar verfügt. Weite Teile der Bevölkerung hätten die einschneidenden Massnahmen weder verstanden noch mitgetragen, von den Arbeitgebern ganz zu schweigen.

Autoritäre Staaten setzen ihre Verbote konsequent durch. Die Menschen in der Schweiz hingegen erstritten sich ihre Kultur der Eigenverantwortung und ihre Freiheitsrechte. Eine schnelle und massive Veränderung des individuellen Verhaltens ist nur möglich, wenn die Leute sie akzeptieren. Dieser Prozess wird beschleunigt, wenn der entscheidende Akteur eine hohe Glaubwürdigkeit hat. Hierzu erreicht der Bundesrat bei Umfragen seit Langem gute Werte. Noch wichtiger ist aber ein anderer Faktor: Es gibt keine Kluft zwischen der Politik und dem Volk. Die allermeisten Menschen in unserem Land verstehen sich als Teil des Staates.

 

Seit sich die Corona-Krise zugespitzt hat, findet in Bern täglich ein «Point de Presse» statt. Dort geben Schlüsselpersonen aus den einzelnen Departementen erschöpfend Auskunft, was wo läuft. Proaktiv zu informieren ist weise, weil so das enorme Interesse der Medien gebündelt werden kann. Zugleich verschaffen sich die Beteiligten wieder etwas Luft für andere Arbeiten.

Einen Riesenjob macht Bundesrat Berset, und man sieht ihm die Nachtübungen an. Über das Wochenende lancierte er auf seinem Instagram-Profil die «So-schützen-wir-uns»-Challenge und forderte Roger Federer, Christa Rigozzi und Stress heraus – drei populäre Stars in den drei grossen Sprachregionen. Sie zückten ihre Smartphones und multiplizierten in eigenen Worten die Botschaft. Die Aktion zog sofort weitere Kreise, längst auch auf Twitter.

Die wichtigste Figur bleibt allerdings Daniel Koch. Der ausgebildete Arzt aus dem BAG ist die Ruhe selbst. Bei den Medienkonferenzen hört er sich die Fragen geduldig an und gibt dann professionell und konzis Antwort. Manchmal scheint sein Kopf im etwas zu grossen Anzug zu verschwinden. Er könnte ein Bruder des famosen US-Schauspielers John Malkovich sein und lässt auch mal seinen trockenen Humor aufblitzen. Auf die Frage eines Journalisten, ob er ihm den Konjunktiv erklären könne, den der Pharmakonzern Roche bezüglich neuer Corona-Tests verwendet habe, entgegnet er mit seiner sonoren Stimme: «Nein, ich bin nicht Sprachwissenschaftler, deshalb kann ich ihnen den Konjunktiv nicht erklären.» Die Sequenz ging viral, Koch hat Kultpotenzial. Es würde nicht überraschen, wenn auf Facebook plötzlich Fan-Seiten auftauchten, die fordern: «Koch 4 President».


Dieser Artikel ist auf Anfrage der «Medienwoche» entstanden und wurde dort zuerst publiziert. Die Fotomontage bei dieser Onlinezeitung kreierte Bildredaktor Marco Leisi – Top-Arbeit. Danke, dass wir sie übernehmen durften. 

Disclaimer: Die Firma des Autors hat keine Mandate bei der Bundesverwaltung.

 

Der demütige Diener

Ronald Reagan ist als «The Great Communicator» in die Geschichte eingegangen. Von Politik hatte der Gouverneur Kaliforniens und spätere Präsident der USA (1980 – 1988) zunächst wenig Ahnung. Dafür wusste er um die Wirkung eines souveränen Auftritts; wichtige Medienkonferenzen übte er tagelang. Als Schauspieler, der in unterschiedliche Rollen geschlüpft war, konnte er aus dem Vollen schöpfen.

Daniel Koch (Bild) hat keine Bühnenerfahrung, steht aber seit Wochen im Scheinwerferlicht. Der Arzt beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist das Gesicht geworden im Kampf gegen die Corona-Krise. Auf allen Kanälen beantwortet er zahllose Fragen professionell und selbst die bedepperten mit stoischer Gelassenheit. Seine sonore Stimme wirkt wie ein Beruhigungsmittel. Koch strahlt Glaubwürdigkeit aus, was eine zentrale Bedeutung hat in der Krisenkommunikation. Zu keinem Moment kommt der Verdacht auf, dass er die enorme Aufmerksamkeit der Medien geniessen würde. Vielmehr versteht er sich als Diener der Gesellschaft. Wir mögen solche Figuren, denken Sie nur an Franz Steinegger, oft «Katastrophen-Franz» genannt, oder Eveline Widmer-Schlumpf.

Woher nimmt der zweifache Familienvater, der zusammen mit seinem kleinen Team seit Langem 18-Stunden-Tage bewältigt, diese Kraft? Die Antwort finden wir womöglich in seiner langjährigen Tätigkeit für das Internationale Rote Kreuz (IKRK). In Lateinamerika, Sierra Leone oder Ruanda war Koch stets mit Armut und den verheerenden Folgen von Bürgerkriegen konfrontiert. Andere werden während solchen Einsätzen stumpf und zynisch. Ihn lehrten sie Demut und Bescheidenheit. Ob er Schweizer des Jahres wird, wie das immer mehr Beobachter vorschlagen, ist offen. Wir stehen erst am Anfang der Krise. Sicher ist, dass ihm dieser Titel unangenehm wäre.

 

*** Disclaimer: Der Autor hat kein Mandat beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Diese Kolumne wurde auf Anfrage der Wochenzeitung «Berner Bär» verfasst. 

CS-Chef Tidjane Thiam macht Krisenkommunikation auf Instagram

 

Es gilt als Standard in der Krisenkommunikation: Wird ein CEO oder eine Verwaltungspräsidentin angegriffen, reagiert nicht diese Person, sondern deren Unternehmung. Der Chef der Credit Suisse, Tidjane Thiam, machte es gestern anders. Auf einen kritischen Bericht in der «NZZ am Sonntag» (hinter der Bezahlschranke) reagierte er persönlich und weist die Vorwürfe zurück, indem er seinen neuen Instagram-Account als Kommunikationskanal nutzt.

Vier Fragen und Antworten zu dieser verunglückten Kommunikation, die ich auf Anfrage der «Blick»-Redaktion verfasste. Zunächst aber das Posting Thiams auf Instagram:

Der CEO reagiert via Social Media zu einem kritischen Medienbericht, während die CS schweigt – was ist davon zu halten?

Die Vorwürfe der «NZZ am Sonntag» sind happig. Gerade weil sie sich an Tidjane Thiam direkt richten, hätte er nicht selber reagieren dürfen. Das wäre die Aufgabe der Medienstelle gewesen, am besten mit einer Medienmitteilung und via Twitter – bei 340’000 Follower ein Must. Dass Thiam ausgerechnet Instagram als Kommunikationskanal wählte, ist eine Fehlentscheidung. Thiam hat dort erst seit sieben Tagen einen Account; in der Bio hält er fest: «Views are my own». Doch diese Trennung funktioniert nicht, Schlüsselpersonen werden immer mit ihrem Arbeitgeber verknüpft wahrgenommen.

Am Sonntagabend zählte Thiams Instagram-Account erst 600 Abonnenten, das ist eine sehr bescheidene Reichweite. Instagram ist grundsätzlich ein Kanal für Brands, Stars, Sternchen und zahllose Fotos – es geht um Selbstinszenierung. (Diese betreibt Thiam mit seinen Fotos vom WEF 2020 auch.) Für Krisenkommunikation eignet er sich nicht. Auf Twitter hätte Thiams Replik sofort Wirkung erzielt, weil dort die Leute sind, die sich für ihn und Wirtschaftsthemen interessieren.


Welche Gefahren birgt eine Kommunikation, die offenbar nicht abgesprochen ist?

Tidjane Thiam hat sich am Sonntag offensichtlich für einen Sololauf entschieden. Das lässt anklingen, was er von der Zusammenarbeit mit der Medienstelle der CS hält. Er reagierte, die CS kommunizierte nur auf hartnäckiges Nachhaken und auch dann nur ganz knapp – das ist pitoyabel. Erst wegen Thiams Reaktion springen jetzt viele anderen Medien auf, und weil die CS faktisch schweigt, kriegt die jüngste Enthüllung noch mehr Gewicht.

Die CS mauert bereits seit geraumer Zeit. Welches Zeugnis stellen sie der Bank und dem CEO hinsichtlich der aktuellen Kommunikationsstrategie aus?

Es ist auch eine Strategie, Probleme auszusitzen und nicht zu kommunizieren. Allerdings kann die Krise so noch grösser werden. Das kann sich eine Bank, die auf das Vertrauen der Kunden angewiesen ist, aber nicht leisten.


Was könnte die CS besser machen?

Der Beschattungsskandal ist seit September publik. Dabei geht es ja nicht nur um grosse Egos, hohe Testosteronspiegel und Machtkämpfe. Die Ergebnisse der Untersuchung von externer Stelle, einer grossen Wirtschaftskanzlei, sollten so bald als möglich vorliegen, sonst schwelt die Krise weiter. Zudem dürften die Aufseher der Finanzmarktaufsicht (Finma) die CS durchleuchten wollen. Derweil scheint sich Verwaltungsratspräsident Urs Rohner entschieden zu haben, diese Sache auszusitzen. Womöglich liegt das daran, dass er Thiam vor fünf Jahren zur CS geholt hatte.


Ergänzender Medienbericht: 

Neue Enthüllungen bringen CS-Chef Thiam in Rage
(CH-Media, Daniel Zulauf, 28. Januar 2020)

Vom Messerstecher-Inserat bis zum wurmstichigen Schweizer Apfel: Provokation funktioniert noch immer

Am Anfang war das Messerstecher-Inserat. Dieser Skandal liegt inzwischen 25 Jahre zurück. Seither werden in der Politwerbung immer mal wieder unsägliche Sujets in die Medienarena geschoben. Das Muster ist stets dasselbe: Ein Leadmedium erhält das Sujet exklusiv, andere Medien ziehen sofort nach, weil solche Themen viele Klicks generieren. Zigtausend Leute teilen es reflexartig auf Facebook und Twitter, nicht alle sind echt empört, sondern spekulieren auf Likes. Jedesmal steht alsbald die Forderung im Raum, dass die Provokateure sich entschuldigen und das Sujet zurückziehen. So hält sich das Thema über mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen. Es sind die Gegner der SVP, die mit ihren fiebrigen Reaktionen für eine enorme Reichweite sorgen.

Das Muster funktioniert immer noch, die Gegner tappen wieder und wieder in dieselbe Falle, jedes Sujet geht viral durch die Decke.

Zurzeit enerviert sich ein Teil der Nation über einen Schweizer Apfel, der von fünf Würmern zerfressen wird. Sie symbolisieren andere Parteien und – natürlich – die EU.

Klar, die Bildsprache erinnert an die Nazi-Rhetorik der Dreissigerjahre («Ungeziefer»). Am Ende dieses Postings wird ein Sujet aus der antisemitischen Nazi-Zeitung «Der Stürmer» gezeigt. Deshalb dürfe man nicht schweigen, argumentieren viele. Ich stimme zu. Das Sujet sollte man allerdings nicht weiterverbreiten, weil es eine enorme Suggestivkraft hat. Was auffällt: Viele Gegner kommen nicht über ein «Pfui, ihr seid doch braune Trottel!» hinaus. Mit Verlaub, aber dieses Niveau ist auch bescheiden.

Mit dem Apfel-Würmer-Sujet gewinnt die SVP am 20. Oktober kaum zusätzliche Stimmen, aber sie hat sich damit einmal mehr die Aufmerksamkeit geholt und wir diskutieren über ein Thema, das in ihrem Drehbuch steht. Der Effekt: Die Parteimitglieder werden bei Laune gehalten, zugleich kann sie von den drängenden Problemen wie der Klimakrise oder den Krankenkassenprämien ablenken.

Dieselbe Bildsprache wurde bereits in den Dreissigerjahren verwendet

Schockierende Plakate und Inserate sind in der Schweizer Politwerbung keine Erfindung der SVP. So griffen sich in den Dreissigerjahren die Kommunisten und Faschisten regelmässig heftig an. Eines der damaligen Sujets besteht aus einer furchterregenden Fratze von Stalin, der ein Messer zwischen den Zähnen hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich die Parteien darauf, ihre eigenen Stärken in den Vordergrund zu stellen, die politischen Gegner wurden nicht mehr attackiert.

Der Tabubruch geschah Ende 1993 mit dem Messerstecher-Inserat. In den Schweizer Redaktionsstuben rauchten die Köpfe: Greifen wir dieses Thema journalistisch auf oder ignorieren wir es? Die Diskussionen waren intensiv, ich erlebte ein paar davon. Damals gab es weder Online-Portale noch Social Media, die etablierten Medien waren sich ihrer Verantwortung bewusst und agierten als Gatekeeper. Das Messerstecher-Sujet schaffte es trotzdem, zu einem grossen Thema zu werden.

Seither wurde eine ganze Reihe weiterer Sujets lanciert, etwa die dunklen Hände, die nach dem Schweizer Pass greifen, das Schäfchen-Plakat oder die Minarette, die aussehen wir Pershing-Raketen.

Solche Provokationen erzeugen Langzeiteffekte: Der Absender beeinflusst die Medienagenda, erhält viel Aufmerksamkeit, kann sich erklären und so seine Botschaften platzieren. Der Aufstieg der SVP seit 1991 von einer bäuerlich geprägten Partei mit 11 Prozent Wähleranteil zu einer modernen, top-down geführten Wählerorganisation mit 29 Prozent hat auch mit Aufmerksamkeitsökonomie zu tun. Keine andere Partei hat so früh und so konsequent die Medienlogik verinnerlicht.

Analogie zu den Dreissigerjahren: Die Nazi-Zeitung «Der Stürmer» publizierte einmal dieses Sujet namens «Der Wurm». Es war gegen die Juden gerichtet.
Quelle: AZMedien/TeleM1