Ein Blick in die Schweizer Mediendatenbank zeigt: Seit dem 1. Januar 2020 wurden rund 352’000 Artikel zum Thema «Coronavirus» referenziert. Im Durchschnitt sind das 800 Artikel pro Tag, die in Wellen über uns hinwegrollen. Einige sind von Bedeutung, andere schon Stunden nach ihrer Publikation wieder überholt und vergessen.
Die Story, welche die Tamedia-Zeitungen am Abend des 10. März online und tags darauf in ihren Printausgaben von Winterthur bis Interlaken bringt, ist ein ganz anderes Kaliber. Sie suggeriert, dass es einen schnellen Weg zurück in die Normalität gegeben hätte.
Titel und Lead lassen keine Zweifel aufkommen: Der Bund hat es versemmelt. Gesundheitsminister Alain Berset erkannte im letzten Frühling die Riesenchance nicht, Lonza ein Vakzin aus der Schweiz für die Schweiz produzieren zu lassen. Der eitle, omnipräsente und laut Umfragen beliebteste Bundesrat machte also einen groben Fehler. Skandalös! Beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind die gut bezahlten Bürokraten, wie sie oft genannt werden, schon lange angeschossen. Von ihnen Agilität und Tempo zu erwarten, liegt ausserhalb des Vorstellbaren. Ein explosiver Plott, der in diesem Artikel angerichtet wird.
Die Story geht durch die Decke, Dutzende von anderen Medien greifen sie auf (hier: der «Blick»), das Thema ist gesetzt.
Im Bundeshaus läuft die zweite Sessionswoche, und die Wogen gehen hoch. Die Politik ist aufgeschreckt und macht Lärm, die Fraktionen wollen sich profilieren. So spricht die FDP Schweiz von einem Donnerschlag und verlangt Klärung, «bei Bedarf durch eine PUK», also einer Parlamentarischen Untersuchungskommission, wie sie im Fall Kopp oder bei der Fichenaffäre zum Zuge kam.
Ein paar Tage später wird klar, dass die Tamedia-Story eine Zeitungsente ist. (Die entscheidenden Artikel befinden sich am Ende dieses Postings.)
Vermutlich hilft ein Vergleich: Nehmen wir an, dass Sie an einem schönen Südhang ein neues Haus bauen wollen. In einem solchen Fall verhandeln Sie nicht mit dem Gipser, der auf der Parzelle nebenan arbeitet. Nein, sie verhandeln mit der Architektin, die das Projekt im Auftrag der Bauherrschaft entwickelt.
Lonza ist in der Rolle des Gipsers. In ihrem Werk in Visp produziert sie den Wirkstoff, also bloss einen Teil des Impfstoffs, und das im Auftrag von Moderna. Die Rechte liegen bei der Biotech-Unternehmung aus den USA, sie entscheidet, an wen der Impfstoff verkauft wird.
Berset und die BAG-Spitze hatten im Frühling 2020 keinen Spielraum, um auf eine eigene Produktionsanlage in Visp hinzuwirken. Das wäre auch sehr riskant gewesen, zumal man damals noch nicht wusste, welche Impfstoffe eingesetzt werden können.
Doch der Schaden in der Öffentlichkeit ist längst angerichtet: Das BAG mit Anne Lévy und Nora Kronig im Brennpunkt wird in Kommentarspalten, Leserbriefen und sozialen Medien an den Pranger gestellt. Im Volk sind die Zweifel am Impfplan noch einmal etwas grösser geworden. Und die FDP forderte tatsächlich auf Basis einer Zeitungsente eine Untersuchung, bei Bedarf eine PUK.
Am 16. bzw. 17. März berichten die Tamedia-Zeitungen erneut prominent über den Fall. Konkret korrigieren sie die Story der Vorwoche, nennen das allerdings «neue Recherchen». Sowohl auf ihren Online-Portalen wie im Print platzieren sie eine «Korrektur» (siehe nebenan). Ein aufmerksamer Twitterer weist darauf hin und bringt so den Stein ins Rollen.
Eine Entschuldigung für die schlampige (oder bewusst perfide) Arbeit sucht man vergebens, auch am Tag danach.
Gestern Morgen mailte ich Chefredaktor Arthur Rutishauser und der Medienstelle von Tamedia fünf Fragen zu diesem Fall.
Ich bitte Sie höflich, folgende Fragen schriftlich zu beantworten.
1. Nehmen bei aufwändigen Recherchen zu heiklen Themen andere Redaktionsmitglieder einen zweiten Faktencheck vor, bevor der Artikel jeweils publiziert wird? Es geht hier explizit um tagesaktuelle Titel, nicht um die «SonntagsZeitung», und es geht um das grundsätzliche Meccano.
2. Aus welchen Gründen blieb die Zeitungsente vom 10./11. März zunächst unerkannt?
3. Ist die Reaktion, die Tamedia am 16./17. März mit der Notiz «Korrektur» platzierte, adäquat?
4. Wie behandelt die Chefredaktion diesen Fall?
5. Wie reduzieren Sie in Zukunft das Risiko solch gravierender Fehler, die die Glaubwürdigkeit des Journalismus und von Tamedia beeinträchtigen?
Gestern Abend ging Arthur Rutishausers Antwort via Medienstelle ein. Er beantwortet meine Fragen summarisch.
«Wir haben den ursprünglichen Artikel transparent korrigiert und aufgezeigt, was wir darüber wissen wie der Sachverhalt war. Alle involvierten Stellen wurden immer mit allen Sachverhalten konfrontiert und haben teilweise auch Stellung genommen. Offen bleibt, warum in der Schweiz scheiterte, was in den USA funktionierte – und dem gehen wir weiter nach.»
Rutishauser erkennt also keine Fehler seitens der Tamedia-Redaktion, ein schlichtes Pardon bleibt aus.
Die Tamedia-Zeitungsente hat bislang erst «Persönlich», das Portal der Kommunikationsbranche, aufgegriffen. Medienkritik hat es schwer in diesem Land – weil es keine Fehlerkultur gibt. Aber auch heute werden die Wellen wieder 800 neue Artikel zum Thema Coronavirus heranspülen.
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Nachfolgend die beiden Artikel der Tamedia-Zeitungen als PDF. Die Namen der beteiligten Medienschaffenden sind eingeschwärzt:
– Bund wollte keine eigene Impfstoffproduktion
(11. März 2021)
– Warum die Gespräche zwischen Berset und Lonza im Sand verliefen
(17. März 2021)
Von Anfang an einen soliden Job machte die NZZ mit ihrer Einordung:
– Der Bund taugt nicht zum Impfstoff-Hersteller
(13. März 2021)