Berner Wahlen: Was der BDP-Erfolg für Bundesrätin Widmer-Schlumpf bedeutet

Spektakuläre Wahlsiege können zu Fehleinschätzungen und Erklärungsnotständen führen. Beides ist nach den Berner Kantonalwahlen von gestern geschehen.

eveline_widmer_schlumpf1_small_swissinfoZu den Fehleinschätzungen: Verschiedentlich spekulierten Medien, dass Eveline Widmer-Schlumpf (bdp) nun ihre Wiederwahl bei den Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats im Dezember 2011 eher schaffen könnte. Ironischerweise sind mit dem BDP-Erfolg von gestern die ohnehin schon bescheidenen Chancen Widmer-Schlumpfs noch einmal gesunken. Wieso?

Die BDP wirkte wie ein Stachel im Fleisch der “Schwesterpartei” SVP und trieb diese stark an. Konsequenz: Die Volkspartei konnte ihre vorübergehenden Sitzverluste vor knapp zwei Jahren praktisch kompensieren: Minus 0,8 Prozent und bereits wieder 44 Sitze im Kantonsparlament sind das Ergebnis (2006: 47 Sitze). Gerade die grosse Anti-SVP-Front hatte gehofft, dass mit dem Aufkommen der BDP die SVP kräftig zurückgebunden werden kann. Diese Hoffnungen wurden gestern Abend zerstört.

SVP bleibt auch bei Nationalratswahlen 2011 die grösste Partei

Mit dem Konsolidieren des Berner Terrains ist die Ausgangslage für die SVP klarer denn je: Sie wird nächstes Jahr mit Nachdruck auf einem zweiten Bundesratssitz beharren. Als wählerstärkste Partei hätte sie dereinst auch Anspruch darauf. Dass sie im Herbst 2011 Nummer 1 bleiben wird, dürfte kaum jemand bezweifeln. Die kantonalen Wahlergebnisse der letzten zweieinhalb Jahre lassen darauf schliessen, ebenso die Distanz zur zweitgrössten Partei. SVP und SP trennen derzeit 9,4 Prozentpunkte (Wähleranteil bei den Nationalratswahlen 2007: SVP 28,9%, SP 19,5%).

Im Kanton Bern hat die BDP die Nagelprobe bestanden und aus dem Stand 16,0 Wählerprozente erreicht. Das gibt der jungen Partei Rückenwind und Selbstbewusstsein. Ende Mai finden in Glarus kantonale Wahlen statt, im Juni in Graubünden. Man muss kein Prophet sein um vorauszusagen, dass die BDP auch in diesen beiden Kantonen gut bis sehr gut abschneiden wird. Viele Überläufer sorgten dafür, dass sie auch dort sofort zu einem Machtfaktor wurde.

Allein: starke Positionen in den Kantonen Bern, Glarus und Graubünden helfen nicht entscheidend weiter. Damit käme die BDP schweizweit erst auf einen Wähleranteil von vielleicht 5 Prozent. Um eine Wiederwahl Widmer-Schlumpfs arithmetisch zu legitimieren, müsste sie etwa 12 Prozent erreichen. Das heisst, dass sie bei den Nationalratswahlen im Herbst 2011 in einigen Kantonen ähnlich spektakuläre Wahlerfolge wie eben in Bern erzielen müsste. Das käme einem Umpflügen der Parteienlandschaft gleich, wie es in Italien oder Bananenrepubliken möglich ist.

Foto Eveline Widmer-Schlumpf: swissinfo

Direkte Links zu den Wahlergebnissen

Auf nationaler Ebene ist die Sache längst gelaufen, und das mit überdeutlichen Ergebnissen: BVG-Umwandlungssatz (Nein), Tierschutz-Initiative (Nein), Forschung am Menschen (Ja).

Wir können den Fokus also auf verschiedene Exekutiv- und Parlamentswahlen in Kantonen und Städten legen. Die direkten Links zu einigen Resultateseiten:

Stadt Zürich: Stadt- und Gemeinderatswahlen
Stadt Winterthur: Stadtrat und Grosser Gemeinderat
(Hochrechnungen auf 15.30 Uhr, Endergebnisse ca. 20 Uhr)

Kanton Glarus: Regierungsrat, Gesamterneuerungwahlen
(Schlussresultate liegen bereits vor)
Kanton Nidwalden: Regierungsrat, Gesamterneuerungswahlen
Kanton Obwalden: Regierungsrat, Gesamterneuerungwahlen

Wahl- und Abstimmungstage sind für die Verwaltungen gute Gelegenheiten, sich in Bezug auf Auszählungstempo und Aktualisierungen der Websites zu profilieren. Ab und an gibt es Abstürze, etwa wenn zeitgleich zu viele Zugriffe vorgenommen werden.

Ins Auge sticht dabei Winterthur: Die zweitgrösste Zürcher Stadt wartet mit einem Liveportal auf. Das ermöglicht einen schnelleren Überblick als das, was die Websites der anderen Städte und Kantone preisgeben.

Die Taste, die heute am häufigsten gedrückt werden muss: F5.

Martin Bäumle ist für SP eine zu “fette Kröte” – Daniel Jositsch wills richten

Stefan Feldmann, Präsident der SP des Kantons Zürich, sagte es so: glp-Nationalrat Martin Bäumle wäre für uns eine “ziemlich fette Kröte” gewesen. Diese Kröte wollten die Sozialdemokraten nicht schlucken, will heissen: sie verzichten auf eine Unterstützung Bäumle bei den Regierungsratsersatzwahlen von Ende November. Im Mitte-Links-Spektrum trachte(te)n drei Parteien danach, Rita Fuhrers (svp) Sitz anzugreifen: Grüne, Grünliberale, SP.

Anstelle von Bäumle, Präsident der Grünliberalen Partei der Schweiz, setzt die SP aber auf einen eigenen Kandidaten. Es zweifelt kaum jemand mehr daran, dass dieser Kandidat Daniel Jositsch heissen wird. Der medial omnipräsente Nationalrat macht aus seinen Ambitionen auch heute keinen Hehl.

Die SP ist mit zwei Mitgliedern in der siebenköpfigen Regierungs des Kantons Zürich vertreten. Jetzt greift sie nach einem dritten Sitz. Das ist legitim und die Stimmberechtigten haben am 29. November eine Auswahl. Bäumle verzichtet inzwischen auf eine Kandidatur – ohne die Unterstützung der SP hätte er keine Chance.

Interessant: Bäumle und Jositsch sind sich, nimmt man ihre Smartvote-Profile der Nationalratswahlen 2007 als Referenzwerte, inhaltlich ziemlich nahe. Einzig beim Politikfeld “Ausbau des Sozialstaats” gibt es deutliche Differenzen.

Martin Bäumles Profil ist lindengrün, dasjenige von Daniel Jositsch rot.

SP-Nationalrätin Chantal Galladé machte an der Delegiertenversammlung im Zürcher Volkshaus klar, worum es ihrer Partei geht: “Wenn wir nicht antreten, können wir uns gleich den Grünliberalen anschliessen.”

Dass die SP für Bäumle nicht Steigbügelhalterin spielen will, ist klar. Die Gründe dafür sollten wir in den nächsten Wochen ausleuchten.

Mark Balsiger

Die plötzliche Einsamkeit des Ständerats- präsidenten Christoffel Brändli

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Politik kann einsam machen – zuweilen über Nacht. Ständeratspräsident Christoffel Brändli ist ein exemplarisches Beispiel. Seit der Gründung der SVP im Jahre 1971 gehörte er ihr an. Am ausserordentlichen Parteitag in Landquart von gestern gab sich die aus der SVP Schweiz geworfene Sektion Graubünden einen neuen Namen: Bürgerliche Partei Schweiz (BPS).

Brändli hielt dabei vor seinen Weggefährten eine längere Rede. Seit heute sind es seine ehemaligen Weggefährten. Er trat der BPS nicht bei, als einziger bekannter Mandatsträger aller ehemaligen Bündner SVPler. Seit heute ist Brändli damit parteilos, ohne politische Heimat, einsam. Er wolle sich nicht an den Streitigkeiten der beiden Parteien beteiligen, vermeldet die NZZ.

Christoffel Brändli hatte sich selber in eine schwierige Situation manövriert. In der Zeitung “Südostschweiz” schlug er vor, dass die Bündner SVP mit der FDP fusionieren soll. Das geriet seinen Parteikollegen in den falschen Hals, weil er sie nicht im Vorfeld über seinen Vorschlag informiert hatte. Immerhin kam er ja nicht von irgendeinem Nobody, sondern von ihrem eigenen Ständerat, einem politischen Schwergewicht im Kanton.

Brändlis Vorschlag war ein strategischer Denkfehler, der ihn innerhalb seiner Partei isolierte: Wäre es tatsächlich zu einer Fusion mit der FDP gekommen, hätte diese mit dem Parteiwechsel von Eveline Widmer-Schlumpf drei Mitglieder im Bundesrat gehabt.

Mit einem Wähleranteil von 15,6 Prozent haben die Freisinnigen rein rechnerisch nur noch Anspruch auf einen Sitz. Widmer-Schlumpfs Abwahl im Dezember 2011 wäre so sicher wie das Amen in der Kirche. Für die (ehemaligen) Bündner SVPler fürwahr keine Perspektive.

rita_fuhrer1.jpgBrändli hatte schon einmal einen strategischen Fehler gemacht – mit fatalen Folgen für seine eigene Karriere: Nachdem Adolf Ogi im Herbst 2000 seinen Rücktritt aus dem Bundesrat bekannt gegeben hatte, galt Brändli zuerst als klarer Favorit unter den möglichen Nachfolgern. Früh, viel zu früh stand Brändli zu seinen Ambitionen, gab selbstbewusst Interviews – und wurde prompt abgeschossen. Die SVP Graubündnen nominierte ihn zwar zuhanden der Bundeshausfraktion. Diese setzte aber die Zürcher Regierungsrätin Rita Fuhrer und den Thurgauer Regierungsrat Roland Eberle (Foto unten) auf das Ticket.

roland_eberle1.jpgAm 6. Dezember 2000 wurde schliesslich… Samuel Schmid gewählt. Er hatte im Schlussgang den Querdenker aus dem Kanton Aargau, Ulrich Siegrist, geschlagen. Siegrist war wie Schmid “wild” angetreten, nachdem er noch 1987 als offizieller Kandidat seiner Kantonalpartei ins Rennen geschickt worden war; gewählt wurde Ogi. 1987 demissionierte übrigens ein gewisser Léon Schlumpf, der Vater von Eveline Widmer-Schlumpf, womit sich auch dieser Kreis wieder schliesst.

Doch zurück zu Christoffel Brändli: Kaum ein anderer Politiker hat eine ähnliche Blitzkarriere gemacht wie er: Mit 26 Gemeinderat, mit 28 Grossrat, mit 33 Fraktionspräsident, mit 35 Gemeindepräsident, mit 39 Regierungsrat, mit 52 Ständerat. Vielleicht war es gerade sein müheloser Aufstieg, der die Selbstwahrnehmung verzerrte und ihn vor dem letzten grossen Schritt in den Polit-Olymp scheitern liess.

– Foto Christoffel Brändli: www.christoffelbraendli.ch
– Foto Rita Fuhrer: www.wahlen.zh.ch
– Foto Roland Eberle: www.parlament.ch

Berner SVP vor der Gretchenfrage: Austritt aus der SVP Schweiz oder Spaltung?

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Die Geschichte der SVP-Dissidenten wird auch heute weitergeschrieben, in Bern wie im Kanton Graubünden.

http://www.espace.ch/artikel_532058.html

Seit dem Ausschluss der Bündner SVP-Sektion am 1. Juni ist eine ungewöhnliche Dynamik aufgekommen, die Auswirkungen auf die Parteienlandschaft sind noch nicht abschätzbar.

In Graubünden ist die Gründung einer neuen Partei beschlossene Sache, nicht so in Bern. Die primären Fragen sind:

– Ist das Vorgehen richtig, die SVP-Kantonalpartei mit einer Resolution zum Austritt aus der SVP Schweiz bewegen zu wollen?
– Wie gross sind die Chancen für eine neue bürgerlich-liberale Partei im Kanton Bern?
– Gibt es einen “dritten Weg”, wie dies rund zwei Dutzend SVP-Grossräte vor ein paar Tagen forderten?
– Wie gross ist der Einfluss der liberaleren Kräfte auf den Kurs der Berner SVP, wenn sie der Partei treu bleiben?

Die Zeit drängt: Voraussichtlich am 23. Juni soll eine ausserordentliche Delegiertenversammlung entscheiden, ob die Berner SVP der Mutterpartei den Rücken kehren will. Das ist die Gretchenfrage: Vielerorts sind die Meinungen noch nicht gemacht. Theoretisch müssten sich die 289 Ortssektionen der Volkspartei in den nächsten zwei Wochen entscheiden, ebenso 21’000 Parteimitglieder.

Ich finde die Diskussion, die entbrannt ist, hochspannend. Interaktive Foren eignen sich vorzüglich dafür. Schön, wenn Sie hier mitdiskutieren.

Ältere Postings zum Thema:

Rettungsversuch von Hermann Weyeneth und Co
Neue Partei: Es braucht einen langen Atem und die richtige Duftnote


Foto: keystone

Neue liberale SVP: Es braucht einen langen Atem und die richtige Duftnote

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collage_abtrunnige1.jpgKeine Frage: 36 liberale Berner SVPler haben am Montag einen Coup gelandet. Ihre Entschlossenheit kam überraschend. Jahrelang konnte man ihnen auf der Nase herumtanzen, sie mit Spott und Hohn übergiessen; stets duckten sie sich und schwiegen meistens zähneknirschend. Gleichzeitig profitierte die Partei von ihrem Spagat. Mit dem Rauswurf der Bündner Kantonalpartei platzte nun einigen Bernern aber der Kragen.

Das dezidierte Vorgehen bringt den Abtrünnigen viele Sympathien ein – nicht zuletzt seitens der Medien. Es kommt noch mehr Bewegung in die Parteienlandschaft, und die Leitfigur Blocher wähnen viele bereits auf dem Weg in die Versenkung. Hoffnung keimt auf. Kombiniert mit dem Frust, der sich jahrelang aufgestaut hat, kann daraus eine dynamische Bewegung entstehen.

Dynamik und einen langen Atem wird es brauchen, um einer neuen Partei Leben einzuhauchen. Auf gesamtschweizerischer Ebene sehe ich keinen Platz für eine neue liberal-bürgerliche Volkspartei. Die drei traditionellen bürgerlichen Parteien beackern dieses Feld seit jeher. Alle drei sind föderalistisch gewachsen, entsprechend unterschiedlich sind die Kantonalsektionen positioniert. In den meisten Kantonen käme eine neue Gruppierung den bestehenden Parteien ins Gehege. Zudem müsste sie Strukturen aufbauen. Das bedeutet Knochenarbeit – wer kann und will sie in unserem ausgeprägten Milizsystem leisten?

Fraktionsstärke dank Christian Waber von der EDU?

Ein wichtiger Etappenerfolg wäre eine eigene Fraktion auf eidgenössischer Ebene. Dafür stehen vier liberale SVP-Nationalräte bereit: Ursula Haller und Hans Grunder aus dem Kanton Bern, Brigitta Gadient und Hansjörg Hassler aus dem Kanton Graubünden. Nach einem fünften Mitstreiter wird gesucht, und das schon ziemlich lange. Der Berner EDU-Nationalrat Christian Waber könnte dem Quartett aus der Patsche helfen. Waber kehrte der SVP-Fraktion nach der „Schäfli“-Werbewalze den Rücken und politisiert seither alleine.

Es lässt sich nicht wegdiskutieren: Ohne Fraktion schwindet der Einfluss unter der Bundeshauskuppel praktisch auf Null. Fraktionslosen ist das Mitarbeiten in den Kommissionen untersagt, sie erhalten auch kaum Redezeit während den Sessionen. Dazu kommt der Faktor Geld: Eine fünfköpfige Fraktion erhält pro Jahr insgesamt etwa 180’000 Franken. Ein fünfter Kompagnon muss also her, und das noch vor der Herbstsession.

Graubünden: Wahlsystem kommt gemässigten Kandidaten entgegen

Im Kanton Graubünden präsentiert sich die Situation komfortabler: Praktisch alle bekannten Mandatsträger gehörten bis am letzten Sonntag zum liberalen Flügel der SVP. Sie stehen in der Tradition der Bündner Demokraten, die bis zur Fusion mit der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) im Jahre 1971 existierten. Der Rauswurf aus der Mutterpartei gibt der neuen Bündner Gruppierung einen Märtyrerbonus. Dank viel Medienpräsenz und einer klaren Abgrenzung von der SVP Schweiz dürfte sie Neumitglieder anziehen.

Entscheidend sind aber die nächsten kantonalen Wahlen. Diese finden bereits im Frühling 2009 statt. Die neue liberal-bürgerliche Partei müsste auf Anhieb deutlich mehr als nur Fraktionsstärke erreichen (5 Sitze), alles andere wäre ein herber Rückschlag. In Graubünden wird das Parlament traditionell nach dem Majorzsystem gewählt. Das bedeutet, dass jeder Kandidat in seinem Wahlkreis eine Mehrheit erreichen muss. Dieses System bevorzugt die gemässigten Kräfte. Zudem wäre es psychologisch wichtig, dass die neue Partei einen ihrer beiden Sitze im Regierungsrat halten kann.

Bern: Neue Partei kann mehrere Tausend Mitglieder gewinnen

Im Kanton Bern ist die SVP die mit Abstand mächtigste Kraft. Sie bestimmt, salopp ausgedrückt, wo Gott hockt, und das schon seit mehr als 80 Jahren. In vielen Dörfern und Regionen gab es lange Zeit gar keine Alternative zur Volkspartei. Das hat den Kanton stark geprägt – bis heute. Die Berner Sektion ist mit 20’000 Mitgliedern die grösste Kantonalpartei der Schweiz. Der Coup der Abtrünnigen spaltet sie. Wie tief dieser Spalt geht, werden die nächsten Wochen zeigen.

Im Spätsommer dürfte im Kanton Bern die neue liberal-bürgerliche Partei gegründet werden. Wenn sie geschickt vorgeht, kann sie innerhalb weniger Monate mehrere Tausend Mitglieder gewinnen. Das gäbe ihr ein solides Fundament. Von den Abtrünnigen eignen sich sechs als formidable Identifikationsfiguren, die in verschiedenen Regionen des heterogenen Kantons zuhause sind: Ständerat Werner Luginbühl (Oberland), die beiden Nationalräte Ursula Haller (Thun) und Hans Grunder (Emmental), Regierungsrat Urs Gasche (Fraubrunnen) sowie Grossrat Heinz Siegenthaler (Seeland), bis vor wenigen Wochen Fraktionschef. Sie alle gelten als grundehrliche, eigenständige und integre Persönlichkeiten. Der sechste im Bunde ist – Samuel Schmid. Von der SVP-Basis wird er geschätzt, zum Teil sogar verehrt. Für sie ist er „üse Sämu“. Schmid verkörpert die lange Tradition des Berner SVP-Sitzes im Bundesrat, die 1929 mit dem legendären Rudolf „Rüedu“ Minger begonnen hatte.

Die Berner SVP hat seit Jahren punktuell andere Parolen gefasst als die Mutterpartei – vor allem in Fragen der aussenpolitischen Öffnung. Die liberal-bürgerliche Nachfolgepartei müsste diesen Kurs fortsetzen. Das reicht auf die Dauer aber kaum: Auch in anderen Politikfeldern braucht es eine klare Abgrenzung von der SVP. Inhaltlich käme sie damit wiederum der FDP sehr nahe, das schleckt keine Geiss weg. Die beiden entscheidenden Unterschiede zwischen diesen beiden Parteien lägen aber in ihrer Herkunft – und ihrer „Duftnote“.

Der Kanton Bern ist mentalitätsmässig ein Agrarkanton geblieben

Die FDP des Kantons Bern ist in den letzten 20 Jahren zu einer Elitepartei geworden. Dieser Tage strich sie in einem Communiqué heraus, dass sie „die Partei der Unternehmer“ sei. Das trifft zweifellos zu, sie ist aber auch die „Partei der Individualisten“, wie Kantonalpräsident Johannes Matyassy sich schon mehrfach ausdrückte. Die Freisinnigen fallen zudem mit ihrem Habitus auf. Dieser kontrastiert mit dem Selbstverständnis der anderen Bürgerlichen.

Die neue liberal-bürgerliche Partei kann reüssieren, wenn sie den richtigen Duft verströmt. Sie müsste eine Partei werden, die in breiten Teilen der bürgerlichen Bevölkerung Sympathien geniesst. Der Kanton Bern ist mentalitätsmässig ein Agrarkanton geblieben, der Bruch mit der Landwirtschaft wäre deshalb fatal. Ähnlich wichtig ist es, wie die abtrünnigen SVP-Mitglieder in den nächsten Wochen und Monaten in der Öffentlichkeit auftreten. Der Charme handgestrickter Kommunikation ist schnell einmal verflogen.

Mark Balsiger

Der Webauftritt der abtrünnigen Berner SVP-Mitglieder:

http://www.resolution-svp.ch/

Fotos: keystone

SVP Graubünden: Wie reagieren die echten und die Vielleicht-Dissidenten?

Der Zentralvorstand der SVP Schweiz fackelte heute nicht lange: Mit 81 zu 5 Stimmen hat er die SVP Graubünden ausgeschlossen. Das ist eine Première: Parteiausschlüsse für Einzelmitglieder gibt es gelegentlich, ganze Sektionen hingegen wurden noch nie ausgeschlossen.

Gegen diesen Entscheid können die Bündner zwar noch rekurrieren. In einem solchen Fall wird die Delegiertenversammlung der SVP Schweiz am 5. Juli den Ausschluss bestätigen. Die Mehrheitsverhältnisse sind glasklar: Gegen den Ausschluss der Bündner votierten in Konsultativabstimmungen nur die Kantonalsektionen Bern und Glarus.

Spannender dürften die Reaktionen sein: Morgen wollen die Spitzenkräfte der verstossenen Bündner Sektion die Medien orientieren, welche Optionen sie sehen. Entschieden wird an einem Sonderparteitag am 16. Juni. Im Vordergrund steht realistischerweise die Gründung einer neuen liberalen Kantonalpartei. (Vor zwei Wochen ging ich noch von einer anderen Option aus.) Der ehemaligen Mutterpartei würde sie am meisten schaden, wenn sie den Rechtsweg beschritte. Das dauert.

In Bern strecken in diesen Stunden eine Handvoll Vielleicht-Dissidenten der “Operation Bubenberg” die Köpfe zusammen. An eine Parteispaltung der mitgliederstärksten SVP-Kantonalsektion glaube ich nicht. Erstens gibt es fast nichts mehr zu spalten. Zweitens braucht es für den Aufbau einer neuen Partei 20 Jahre. Drittens hat es im Berner Parteienspektrum auf die Dauer keinen Platz für eine neue Gruppierung, die sich bürgerlich-liberal positioniert.

Naheliegender ist ein letztes verbales Aufbäumen der wenigen Berner SVP-Liberalen. Danach kuschen sie. Oder die Nationalratsmitglieder Ursula Haller und Hans Grunder schliessen sich der FDP-Fraktion an. Diese würde den Zuwachs wohl begrüssen – im Gegensatz zur FDP des Kantons Bern. Denn spätestens bei den Nationalratswahlen 2011 wären Haller und Grunder ein Problem. Die Luft würde dünner, das Gerangel unter den Bisherigen und Ambitionierten zu einem unschönen Hickhack.

Widmer-Schlumpf: Ihre Tage bis zur Parteilosigkeit sind gezählt

Der Zentralvorstand der SVP Schweiz liess sich nicht beirren: Er eröffnete heute das Ausschlussverfahren gegen die Bündner Kantonalpartei. Der definitive Entscheid soll am 1. Juni fallen. Er wird mit Sicherheit bestätigt. Und sollten die Bündner Rekurs einlegen, würden sie an der darauf folgenden Delegiertenversammlung gedehmütigt.

Ich glaube nicht an Wunder oder einen 180-Grad-Schwenker von Parteipräsident Toni Brunner und Co. Deshalb bleiben zwei Varianten:

a) Die Bündner SVP-Sektion wird ausgeschlossen
b) Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf tritt aus der SVP aus

Bei Variante a wird es bei der SVP im Kanton Graubünden zu einer Spaltung kommen, allenfalls auch im Kanton Glarus. Die neue Partei könnte sich den Namen Bündner Demokraten geben. Diese gab es bereits bis 1971, ehe sie mit der Bauern,- Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) zusammengingen. Daraus entstand die Schweizerische Volkspartei.

gadient_brigitta11.jpghassler1.jpgKurz- und mittelfristig hat eine solche neue Partei eine Chance. Sie könnte im eidgenössischen Wahljahr 2011 womöglich sogar einen oder zwei Nationalratssitze ergattern, etwa mit den Bisherigen, die seit jeher nicht SVP-linientreu sind, Brigitta Gadient und Hansjörg Hassler (rechts).

Langfristig und vor allem überregional dürfte eine neue Partei aber kaum eine Chance haben. Der politische Markt ist zu klein, der Aufbau mit einer tragfähigen Struktur braucht 20 Jahre. Das heisst Knochenarbeit und ist in einem Milizsystem wenig attraktiv.

In den letzen 90 Jahren gab es in der Schweiz nur eine erfolgreiche Parteispaltung. Nach dem Ersten Weltkrieg lösten sich die Berner Bauern von der FDP und gründeten die Bernische Bauern- und Bürgerpartei, die bereits 1919 die stärkste im Kanton wurde. Zehn Jahre später schaffte ihr Gründervater, Rudolf Minger, den Sprung in den Bundesrat.

Doch zurück zum Heute: Variante b wird in den nächsten Tagen Oberwasser kriegen. Ich gehe davon aus, dass Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf sich schliesslich dazu durchringen wird, aus der Partei auszutreten – ihrer Bündner Sektion zuliebe. Das kann ein Befreiungsschlag bedeuten: Es würde für die strammen SVP’ler ungleich schwieriger, Widmer-Schlumpf weiterhin in den Schwitzkasten zu nehmen. Sie wurde von der Vereinigten Bundesversammlung in einem demokratischen Verfahren gewählt, daran gibt es nichts zu rütteln.

Die parteilose Bundesrätin wiederum könnte sich ohne das permanente SVP-Getrommel vollumfänglich der Sachpolitik widmen. Im Dezember 2011 hingegen dürfte ihre Zeit ablaufen. Das schweizerische System erträgt auf die Dauer keine parteilosen Bundesratsmitglieder. Als Parteilose mit einem kalkuierbaren Austrittsdatum würde sie nicht zur “lame duck”, wie das ein Kommentator heute in einer Tageszeitung schrieb. Der Ausdruck stammt aus den USA, und von dort gibt es auch ein anschauliches Beispiel: Präsident Bill Clinton, ein Demokrat, war in seiner zweiten Amtsperiode eine “lahme Ente”, nachdem die Republikaner im Senat die Mehrheit errungen hatten. Die “lame duck” kann nur bei einem Regierungs-Oppositionssystem bemüht werden.

In jedem Fall wird Widmer-Schlumpf in die Geschichtsbücher eingehen; sie ist im Prinzip eine moderne Jeanne d’Arc. Meine Grossmutter seelig wiederum würde nicht die französische Nationalheldin aus dem Mittelalter bemühen, sondern eine Redewendung: “Di Gschiider git na, dr Esel bliibt sta.” (Die Klügere gibt nach, der Esel bleibt stehen.)

Fotos von Brigitta Gadient und Hansjörg Hassler: www.parlament.ch

Erfolgswelle der SVP rollt weiter, keine Umgruppierung im linken Lager

Knapp fünf Monate nach den eidgenössischen Wahlen gehen die Erfolge der SVP weiter. Bei den Palamentswahlen in den Kantonen St. Gallen und Schwyz verbuchte sie heute Erdrutschsiege, plus 9 Sitze in St. Gallen, plus 14 Sitze in Schwyz. Damit stellt die Volkspartei in beiden Parlamenten die klar grösste Fraktion. Das ist Balsam für sie, gerade nach der Abwahl von Christoph Blocher, die noch lange für Eruptionen sorgen wird.

Versuchen wir, die Ergebnisse näher zu betrachten: St. Gallen wie Schwyz waren bis vor wenigen Jahren CVP-Hochburgen, jahrzehntelang bestimmte diese Partei nach Belieben, was Sache ist und was nicht. In Schwyz hatte sie beispielsweise bis 1988 die absolute Mehrheit im Parlament. Im Kanton St. Gallen wiederum existierte die SVP im schicksalsträchtigen EWR-Abstimmungsjahr 1992 noch gar nicht. Inzwischen hat sie sich bei Nationalrats- und Kantonsratswahlen als klare Leaderin durchgesetzt.

Die Erfolge in beiden Kantonen haben mit dem EWR zu tun. Die Ja-Parole von FDP und CVP bei dieser Jahrhunderabstimmung haben das konservative Publikum nachhaltig irritiert. Omnipräsent war die Figur Blocher. Seine Abwahl im Dezember hat vermutlich stark mobilisiert und Neuwähler in die Arme der Volkspartei getrieben. Die SVP-Erfolge sind aber auch mit der Auflösung der traditionellen Milieus zu erklären: Katholiken wählen heute nicht mehr zwingend CVP. Laut einer Untersuchung der Schwyzer Wahlen vor vier Jahren landete die Konfession als Entscheidungskriterium noch auf Rang 9.

Auf eidgenössischer Ebene kam es im letzten Herbst zu einer Umgruppierung des linken Lagers: Die SP verlor massiv, die Grünen und Grünliberalen legten zu. Bei den kantonalen Wahlen in St. Gallen und Schwyz wird diese Entwicklung nicht bestätigt. Allerdings verliert die SP in beiden Kantonen massiv, minus 7 Sitze in St. Gallen, minus 6 in Schwyz. Das kommt einer Abstrafung gleich, in beiden Kantonen ist es zu einem massiven Rechtsrutsch gekommen. Dass die Grünen in St. Gallen nicht zulegen konnten, erstaunt. Sie haben die letzten vier Jahre in allen Kantonen und bei den eidgenössischen Wahlen deutlich zugelegt.

Es gibt ein weiteres Merkmal, das sich vom Ausgang der eidgenössischen Wahlen unterscheidet: Die CVP kassiert in beiden Kantonen eine Schlappe. Das ist für die einst so stolze Partei bitter und kann zu Unruhen führen. Der Kurs, den die CVP auf nationaler Ebene fährt, dürfte in den katholischen Stammlanden nun lauter kritisiert werden. Wie es scheint, bezahlen CVP und SP für den Coup, den sie mit der Abwahl von Christoph Blocher gelandet haben.

Auch bei den Exekutivwahlen hat die SVP Oberwasser: In Schwyz holt sie einen zweiten Sitz – zulasten der FDP. In St. Gallen zwingt sie FDP und CVP in einen zweiten Wahlgang und hat keine schlechten Karten, den Einzug in die Kantonsregierung zu schaffen. Notabene mit einem Kandidaten, der noch vor zwei Monaten weitherum unbekannt war. Toni Brunner, der neue Präsident der SVP Schweiz und Noch-Präsident der St. Galler Kantonalsektion, geht gestärkt aus diesem Wahlsonntag hervor. Das ist wichtig für ihn persönlich, weil er im letzten Herbst den Einzug in den Ständerat verpasste. Er hat die letzten 15 Jahre unermüdlich Ortssektion um Ortssektion gegründet. Das ist harte Knochenarbeit. Er war sich nicht zu schade dafür, in verrauchten “Bären”-, “Löwen”- und “Rösli”-Säälen zu jeweils nur einer handvoll Unzufriedener zu sprechen und sie für die Sache seiner Partei zu gewinnen.

Die Nagelprobe für Toni Brunner

Im St. Galler Ständeratswahlkampf ist plötzlich Pfeffer drin: Die gestern angekündigte Kandidatur von Toni Brunner (svp) macht es möglich. Er ist der einzige aus den Reihen seiner Partei, der eine Wahlchance hat. Brunner ist populär, populistisch und dennoch sympathisch, er wirkt jugendlich und sitzt doch schon seit 12 Jahren im Nationalrat. 1995 wurde er, damals gerade 21-jährig, bereits gewählt. In der mit 63 Mitglieder grössten Bundeshausfraktion ist er heute der zweitjüngste, gleichzeitig aber einer der Amtsältesten.

Seit geraumer Zeit ist Brunner Vize-Präsident der SVP Schweiz und gilt als möglicher Nachfolger von Ueli Maurer. Seine Ständerats-Kandidatur ist eine echte Nagelprobe für ihn. Einfach nur mitmachen, um ebenfalls im medialen Scheinwerferlicht zu stehen, reicht nicht mehr aus. Der Druck auf Brunner ist gross. Die SVP St. Gallen ist in wenigen Jahren zur wählerstärksten Partei geworden – ein exemplarisches Beispiel für den schnellen Aufstieg dieser Partei, der vor allem zulasten der CVP ging. Genauso wie die Kantone Luzern oder Schwyz war St. Gallen während Jahrzehnten eine CVP-Hochburg, in der die Katholisch-Konservativen faktisch das alleinige Sagen hatten.

Sollte Toni Brunner nicht gewählt werden, verliert er sein Winner-Image und damit womöglich die Chance, Maurer als Parteipräsident zu beerben. Er ist laut seiner Partei „nicht die bürgerliche Alternative, sondern der einzige bürgerliche Kandidat“. Bei der CVP und FDP, die ihre Bisherigen ins Rennen schicken, Eugen David und Erika Forster, wird man diesen rhetorischen Klimmzug zur Kenntnis genommen haben. Beide sind moderate Bürgerliche, die in der Kleinen Kammer den Dialog und Kompromiss suchen. So, wie man sich das von Ständeratsmitgliedern gewöhnt ist.

Von der Zersplitterung der bürgerlichen Stimmen könnte die Kandidatin der SP, Kathrin Hilber, profitieren. Die Regierungspräsidentin ist populär und mehrheitsfähig. Auf diesen Vierkampf dürfen wir uns freuen. Umso besser, wenn es nicht nur um Persönlichkeiten geht, sondern auch um einen echten Austausch verschiedener politischer Konzepte.

Mark Balsiger