Wahlbistro ermöglicht Debatten rund um die Uhr

Oft und laut wird in unserem Land die tiefe Beteiligung bei Wahlen und Abstimmungen beklagt. Früher seien die Schweizerinnen und Schweizer politisch aktiver und interessierter gewesen. Das mag stimmen. Aber früher gab es eine Parteipresse, Mitglieder von Milieus, die gemeinsam für etwas kämpfen mussten.

Was nützt das rückwärts gewandete Lamento? Wenn viele Menschen den Zugang zur Politik nicht finden oder sich um sie foutieren, müssen andere Ansätze her. Gefordert sind die Politikerinnen und Politiker auf allen Stufen. Gefordert sind insbesondere auch die Medien. Ihre Übersetzungsarbeit ist sehr wichtig: Sie müssen informieren, erklären, gewichten, einordnen. Tag für Tag. Inzwischen sogar Stunde für Stunde.

Das Internet hat das Potential, die Leute wieder vermehrt für Politik zu sensibilisieren. Smartvote, vor fünf Jahren lanciert, ist ein gelungenes Beispiel dafür. Diese Online-Wahlhilfe berechnete im eidgenössischen Wahljahr 2007 mehr als eine Million Wahlempfehlungen, 85 Prozent aller Kandidierenden schalteten ihr Profil bei Smartvote auf. Das sind Rekordwerte!

Die Vermittlung von Politik ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Ich bewege mich dabei an den Schnittstellen von Politik, Medien und Öffentlichkeit. Entsprechend taufte ich vor sechs Jahren meine Firma Border Crossing. Das Credo: Grenzüberschreitend wirken, zusammenführen, Gräben zuschütten, übersetzen, beleuchten – und nicht zuletzt mithelfen, damit das gegenseitige Verständnis wächst.

Basierend auf dieser Tätigkeit ist die Lancierung des virtuellen Diskussionsforums “wahlbistro.ch” logisch. Früher diskutierten politisch Interessierte im “Bären” oder “Rebstock”. Diese Kultur ist praktisch ausgestorben. Das Wahlbistro ist die logische Antwort unserer Zeit.

So präsentiert sich das Wahlbistro optisch, ein erster “Screenshot”:

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Smartvote ist primär ein Service für Wählerinnen und Wähler. Das Wahlbistro hingegen richtet sich auch an Politiker und Kandidatinnen, die sich profilieren möchten. Sie können ihre Eckdaten sowie eine Foto von sich hochladen und mit guten Kurz-Beiträgen an den Debatten teilnehmen. So werden sie bekannter. Die Teilnahme ist für alle gratis. Entscheidend: Das Wahlbistro ist parteipolitisch unabhängig.

Und sieht etwa so aus – der zweite “Screenshot”:

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Selbstverständlich kann das Publikum sich einschalten – im Wahlbistro ist für alle Platz. Vorausgesetzt man hält sich an die Hausregeln. Dank der Kooperation mit Smartvote können die Gäste im Wahlbistro auch die Smartspider (Spinnennetzprofile) der Kandidierenden aufrufen. Auf den Smartvote-Profilen wiederum sieht man, welche Kandidierenden sich im Wahlbistro zu welchen Themen äusserten. Das ist ein ausgebauter Service – und eine Innovation.

Meines Wissens gibt es in der Schweiz keine derartige Möglichkeit des permanenten Austausches unter politisch Interessierten. Beim Polit-Blog “NZZvotum” durften im letzten Jahr zehn gestandene nationale Parlamentarier regelmässig publizieren – auf Einladung der Redaktion. Die User beteiligten sich mit ihren Kommentaren. Das Wahlbistro geht weiter und setzt auf Gleichberechtigung.

Vorerst – als Pilot – ist das Wahlbistro im Kanton Bern geöffnet, weil hier im Herbst in vielen Gemeinden Wahlen stattfinden werden. Die Debatten beginnen frühestens am 1. September. Wichtig ist nun, dass sich viele Interessierte anmelden.

Das Wahlbistro schwirrte mir als Idee seit Langem im Kopf herum. In den letzten Wochen wurde das Projekt konkret, heute purzelte es in die Welt – unbemerkt. Beim “Düredänke”, Entwickeln und Umsetzen haben mitgeholfen: Monika Tschumi, Natascha Mathis, Andi Jacomet, Lukas Golder, Stefan Vogt, Marco Zanoni, ein Dutzend Statistinnen und Statisten beim “Fotoshooting”, sowie die Smartvote-Cracks Lea Hänsenberger (IT), Jan Fivaz, Marco Ineichen, Julien Fiechter und Lukas Pestalozzi.

Euch allen gebührt mein aufrichtiger Dank!

Mark Balsiger

Medienmitteilung Start Wahlbistro (PDF)

Postings zwischen zwei Buchdeckeln

Der gestrige Arbeitstag war lang, 17 Stunden brutto. Abzüglich dem kurzen Abtauchen in der Aare über Mittag und einer Pause am Abend, um im Garten der “Dampfzentrale” zu speisen und dem Laub im Wind zuzuhören. Kaum waren unsere Kaffeetassen abgekühlt, kam ein Sturm auf und fegte über Bern. Irgendwo zerbirst ein Baumstamm. Zurück an den Arbeitsplatz.

Kurz nach Mitternacht knipse ich das Licht aus, schliesse die Bürotüre und trete in die Nacht hinaus. Ich stutze: Auf dem Gepäckträger meines Fahrrads ist etwas festgemacht. Für einen Moment komme ich ins Grübeln: “War ich so zerstreut, dass ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann, einen Plastiksack eingeklemmt zu haben?” Oder haben sich die Kinder im Quartier wieder einmal…

Ich greife nach dem Plastiksack – da ist was drin. Der Inhalt fühlt sich hart an. Keine Zweifel: ein Buch. Schnell ist es ausgewickelt, und da liegt es nun in meinen Händen. Ein Lächeln huscht über mein müdes Gesicht, ich streiche über den Umschlag. Auf der ersten Seite eine persönliche Widmung. “Du gute Fee, du!”

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“Literaturblog” heisst das 220-seitige Werk. Sieben Schweizer Autorinnen und Autoren berichten darin über ihren Alltag als Schreibende. Sabina Altermatt ist darunter und Peter Zeindler, Ruth Schweikert und Emil Zopfi – auf dem Umschlag ist das “i” seines Nachnamens in der Eile vergessen gegangen. Und dann natürlich Simon Cheng, dieser Lausebengel, umlängst auf einer Berner Bühne zu Gast, der mit starker Präsenz, Witz und gelungener Wortakrobatik auffiel. Endlich einmal ein Literat, der auch vorlesen kann, ohne dass einem das Gesicht einschläft!

Drei Monate lang verfassten die sieben Schreibenden Blog-Beiträge, das Publikum kommentierte laufend, nahm den Faden auf, ein anderer Autor spann ihn weiter. Eine freche Idee. Und jetzt liegt sie gebunden vor. Neunzig verschiedene Postings zwischen zwei Buchdeckeln. Das älteste und sinnlichste Medium verquickt mit einem jungen, schnelllebigen.

Literarische Ansprüche auf Blogs – und jetzt ist Buchform? Das geht doch gar nicht, mäkeln die Puristen. Die ersten Texte, die ich in der tiefen Nacht noch gelesen habe, lassen einen anderen Schluss zu.

Das “Blogbuch” wird mich begleiten. Es ist mehr als ein “Buch des Tages”. Es ist ein schönes Geschenk, so unverhofft. Danke.

“Literaturblog – Schweizer SchriftstellerInnen öffnen ihre Literaturwerkstatt”; Martin Weiss (Hrsg.), Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich

Eine kurze Nabelschau genau 18 Monate nach der Geburt

Heute vor 18 Monaten, am 22. Januar 2007, erschien unser Buch “Wahlkampf in der Schweiz”. Heute vor 18 Monaten schrieb ich hier meinen ersten Beitrag. Es war eine Empfehlung zum Wahljahr 2007. Damals ging unser Buch weg wie heisse Weggli, jeden Abend schleppten wir eine grosse Kiste zur Post. Das erste Posting hingegen blieb unentdeckt. Es gurkte im WWW herum, für ein Millionenpublikum problemlos greifbar, niemand wollte es lesen. Niemand.

Statistiken können demotivieren.

Ich trank einen Alpenbitter, flüchtete mich in die Ironie und bloggte weiter. Anfänglich nur ab und an, seit letztem Sommer regelmässig. Inzwischen sind 167 verschiedene Beiträge in die virtuelle Welt gepurzelt, die 575 Kommentare generierten. Das ergibt knapp 3,5 Kommentare pro Posting.

Am meisten Kommentare, nämlich 39, gab es für den Beitrag “Armeechef Roland Nef, das Polizeiprotokoll und seine Falschaussage” von vorgestern. Auf Platz zwei: “Widmer-Schlumpf ist gewählt” mit 35 Kommentaren.

Inzwischen wird das Wahlkampfblog – jawohl, DAS – auch gelesen. Gestern verzeichnete es beispielsweise 774 Besuche, ein Spitzenwert. Im Monat Juni zeigt die Statistik: knapp 10’000 Besuche, 35’000 Seiten. Das gibt Schub. Zwischen 12 und 15 Prozent aller Besucherinnen und Besucher lesen hier länger als eine halbe Stunde. Das wiederum motiviert mich.

Meinem hehren Anspruch, vor allem zu analysieren und einen anderen Aspekt einzubringen, kann ich meistens nicht einlösen. Fast immer fehlt die Zeit, oft die zündende Idee. Trotzdem: ich bleibe dran. Bloggen hat Suchtpotential, das Medium ist faszinierend, Schreiben ist für mich Arbeit am Gedanken.

Und jetzt liegt der Ball bei Ihnen. Ich bin offen für Kritik. Sagen Sie mir Ihre Meinung. Und falls Sie es nicht öffentlich machen möchten, geht es auch “hindedüre”: mark.balsiger@border-crossing.ch

Ich danke. Und jetzt Schluss mit der Nabelschau – back to work.

Mark Balsiger

Voll fett: Veterinäre bloggen aus Bundesamt

Der bekannteste Schweizer Blogger ist zweifellos Bundesrat Moritz Leuenberger. Kraft seines Amtes erreichen seine “Notizen zu Politik und Gesellschaft” eine traumhaft hohe Anzahl Besuche. Ansonsten ist Bundesbern bislang nicht damit aufgefallen, eigene Versuche mit Weblogs zu unternehmen.

Das Bundesamt für Veterinärwesen (BVET) machte nun den Anfang: Es startete das BVET-Blog. Der erste Beitrag thematisiert die Vogelgrippe, die vor zwei Jahren ein Dauerbrenner in den Medien war. Gestern wurde der erste neue Fall seit jenem Hype entdeckt.

Das Engagement des BVET ist, pardon die juvenile Sprachwahl, voll fett. Weblogs eignen sich hervorragend, um Themen rund um das Tier aufzugreifen. So kann schnell Wissen vermittelt und diskutiert werden, denken wir nur an die hoch emotionale Debatte um Kampfhunde.

Vor Jahresfrist machte Medienminister Leuenberger den Anfang, gestern folgten die Veterinäre des BVET. Sie sind also die ersten, die auf das relativ neue und immer noch belächelte Medium setzen. Höchste Zeit, dass weitere Mitglieder aus Bundesbern folgen.

Ein Jahr Wahlkampfblog: 115’000 Seiten aufgerufen, Besucher aus 61 Ländern

Heute vor einem Jahr wurde unsere Publikation “Wahlkampf in der Schweiz – ein Handbuch für Kandidierende” veröffentlicht. Gleichzeitig – ursprünglich als ergänzende Serviceleistung vorgesehen – schaltete ich das Wahlkampfblog auf. Das Einjahr-Jubiläum veranlasst mich, einen Blick in die Statistik zu werfen:

– In den letzten 365 Tagen sind hier 98 Beiträge und 192 Kommentare erschienen. Das ergibt ein Verhältnis von 1:2 und überrascht nicht: Weblogs haben sich in der Schweiz eine Nische erkämpft, sie werden gelesen, kommentiert wird in der Regel sehr zurückhaltend. Das sind auch die Erkenntnisse der ersten wissenschaftlichen Arbeiten zu politischen Blogs. Herr und Frau Schweizer konsumieren zwar die “Posts”, beteiligen sich aber mehrheitlich nicht an den Diskussionen.

– 11’731 “unique visitors” wurden bislang erhoben, sie haben gegen 115’000 Seiten aufgerufen.

– In den ersten Monaten schrieb ich, ohne einen Leser zu haben. Ab April änderte sich das langsam, die Kurve begann sich kontinuerlich nach oben zu bewegen. Seit Oktober hat sich der Besucherschnitt bei 200 pro Tag eingependelt. Einsame Rekorde wurden während den Bundesratswahlen erreicht: Am 12. Dezember waren es 1729 Besuche, am 13. Dezember 1167.

– Die Besucherinnen und Besucher sind aus 61 verschiedenen Ländern auf das Wahlkampfblog gestossen. Mehrheitlich dürften es Auslandschweizer sein, die ein überdurchschnittliches Interesse an den Wahlen hatten. Sie stammen u.a. aus Kanada, Brasilien, Ukraine, Vereinigte Arabische Emirate, Sudan, Taiwan und Neuseeland.

Fazit: Der Wahlkampfblog hat sich nicht zu einem A- oder B-Blog entwickelt, aber er erreicht eine kleine interessierte Lesergemeinde. Das spornt mich an, weiterzumachen. Mein Ziel ist es, in diesem Jahr 50 Beiträge zu verfassen. Die Qualität steht allerdings im Vordergrund, die Themenfelder sind klar abgesteckt. Ich werde schreiben, wenn
– ich Zeit dafür habe
– es mir auf den Fingernägeln brennt
– ich den Eindruck habe, eine neue Perspektive einbringen zu können

Wenn das geschätzt wird, freut mich das.

Mark Balsiger

Exakt zehn Monate im Netz

Der Wahlkampfblog ist ein blutjunges Medium: Heute vor zehn Monaten habe ich ihn lanciert. Aus diesem Anlass hat er ein neues Design erhalten. Es ist klassisch, klar strukturiert, ruhig und macht dieses Weblog optisch unverwechselbar. Ein dickes Dankeschön geht an das Heinzelmännchen, das jeweils des Nachts emsig werkt, und all meine Änderungswünsche im Nu umsetzte. Andi, you’re the wizzard!

Die Zugriffe steigen weiter: Letzte Woche verzeichnete der Wahlkampfblog erstmals mehr als 300 Besuche an einem Tag. Das freut mich und spornt an. Mitschreiben ist weiterhin erwünscht! Es ist simpel – ohne Passwort und andere Hürden können alle mitbloggen.

Auch SIE gehören zu den rund 200 Besuchern, die hier täglich hereinschauen!

Vor neun Monaten wurde das “wahlkampfblog” lanciert. Zeitgleich mit dem Buch “Wahlkampf in der Schweiz”, das ich zusammen mit Hubert Roth geschrieben habe. Mein damaliges Ansinnen: eine Plattform für Kandidierende und Medienschaffende anbieten, auf der sie sich zum Wahlkampf generell und über das Buch austauschen können. Ich hoffte, auf diese Weise einen angeregten Dialog und Diskurs in Gang zu bringen.

Es wollte bislang nicht sein. Nur sehr spärlich wurden Kommentare eingebracht. Das Weblog wird aber aufgerufen. Ich weiss nicht, wer meine Leserinnen und Leser sind, aber ich freue mich über ihre Besuche. Die Kurve zeigt stetig nach oben, von Monat zu Monat gibt es mehr Besuche auf dem “wahlkampfblog”. In der letzten Zeit zählte ich jeweils mehr als 200 “Visits” pro Tag. Das ist eine respektable Zahl, und sie motiviert mich weiterzumachen.

Ich werde hier weiterhin das politische Geschehen kommentieren, ab und an auch neue Themen lancieren, mitunter verknüpft mit den Erkenntnissen, die ich praktisch und wissenschaftlich gewonnen habe. Wenn daraus echte Diskussionen entstehen, wäre das wunderbar.

Das Weblog als Medium finde ich faszinierend. Aus der Warte des Kommunikationsspezialisten bei der Kommunikationsagentur Border Crossing interessiert mich, wie sich die online-Kommunikation entwickeln wird.

“Wo stehst du politisch?”, eine Frage, die ich oft höre. Ich pflege zu antworten: “Im unspektakulären Morast der Mitte.” “Smartvote” – seit vier Jahren das Mass fast aller Dinge – listet beim Vergleich meines Profils Kandidierende von CVP, EVP, Grüne, FDP und SP auf, egal in welchem grösseren Kanton ich es versuche.

Kurz: Ich bin parteilos und habe weder nach links noch nach rechts Schlagseite. (Grundsätzlich halte ich das Links-Rechts-Schema der Schweizer Politik für überholt.) Der Untertitel dieses Blogs “Unabhängige Ansichten” ist deshalb weder Anbiederung noch Etikettenschwindel. Er trifft zu, und das macht frei.

Mark Balsiger

Wo waren die Blogger am Wahlabend?

Um ein grösseres Publikum zu erreichen, sind Schweizer Polit-Blogs auf die Erwähnung in etablierten Medien angewiesen. Unverhofft schaffte es der “wahlkampfblog” – weiterhin ein Experiment -, erstmals in einer Tageszeitung genannt zu werden. Eine Journalistin der “Basler Zeitung” suchte am Wahlabend nach aktuellen Blogbeiträgen – und wurde offenbar kaum fündig. Hier ihr Artikel:
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© Basler Zeitung; 22.10.2007; Seite 4

Wo bleiben die Blogger?

Im Internet bleiben die Kommentare zu den Wahlen spärlich

BARBARA STÄBLER

Die baz wollte wissen, wie stark die Schweizer Bloggerszene die Wahlen verfolgt und kommentiert.

Dank den Weblogs oder auch Blogs genannt, kann der Bürger seine Meinung zur aktuellen Politik und sein Wissen mit anderen schnell und ungefiltert teilen. Blogs, so die Meinung in der Bloggerszene, führten damit zu einer Demokratisierung der Information; die Medien aber verlören dadurch ihre Bedeutung.

Ein Blick ins Internet am Abend der Eidgenössischen Wahlen ist ernüchternd, die Bloggerszene verhält sich ruhig. Zu kommentieren und zu spekulieren gäbe es genügend: die erneute Erstarkung der SVP, den Erfolg der Grünen oder den Absturz der SP.

Doch als Polit-Blogs aufgeführte Weblogs wie edemokratie.ch, ignoranz.ch oder freilich.ch bleiben am Wahlsonntag stumm. Der Blog wahlkampfblog.ch einer Berner PR-Agentur publiziert am Sonntagabend wenigstens einen Kurzbeitrag. «Die Grünen machten vor, wie man faktisch ohne Budget stark zulegen kann. Ein klares Profil macht den Unterschied und wirkt, wenn wenige Themen auf Jahre hinaus konsequent bewirtschaftet werden», wird der Sieg der Grünen kommentiert.
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Gebloggt wurde selbstverständlich auch am Wahlabend – Blogger sind vor allem am Abend und in der Nacht aktiv. Man hätte etwas länger suchen müssen – oder später damit beginnen. Aber zu diesem Zeitpunkt war die “Basler Zeitung” wahrscheinlich bereits im Druck. Das ist der erschlagende Vorteil der Weblogs. Ich werde das Experiment darum vorläufig weiterführen, auch wenn die eidgenössischen Wahlen nun vorüber sind.

Mark Balsiger

“YouTube”-Filmchen ab – die Langweile beginnt

Eine der Neuerungen im Wahlkampf sind die Videobotschaften bzw. Videoblogs, oftmals kurz Vlogs genannt. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel tritt regelmässig in dieser Form an die virtuelle Öffentlichkeit. Abrufbar sind diese Botschaften jeweils auf einer Website. Auch der Zürcher Stadtpräsident Elmar Ledergerber schaltet ab und zu einen Vlog auf.

Hillary Clinton hatte ihre Präsidentschaftskandidatur mit einer Videobotschaft bekannt gemacht. Die Schweizer Medienschaffenden nahmen das in der hiesigen Wahlkampfberichterstattung der letzten Monate immer wieder auf. Die Interpretation, dass Vlogs eine überragende Bedeutung im US-Wahlkampf hätten, ist aber nicht korrekt. Es war ein Coup Clintons, die eigene Kandidatur auf diese Weise zu verbreiten. Zu einer Medienkonferenz einzuladen hätte nach der heutigen Medienlogik nicht mehr funktioniert. Wieso? Die Spekulationen hätten bereits wenige Minuten, nachdem die Einladung verschickt worden wäre, begonnen. Zudem konnte Clinton mit ihrer Botschaft ungefiltert an ein Millionenpublikum gelangen.

Im aktuellen Wahlkampf gibt es mehrere hundert Kandidierende, die eine oder mehrere Botschaften oder Kurzfilme auf ihren Websites aufgeschaltet haben. Die allermeisten Vlogs sind „Eigenproduktionen“: Der älteste Sohn richtet eine Handycam auf den Kandidaten, der im Garten vor dem Lindenbaum steht. Oder die Menschenmenge eines Parteianlasses oder Quartierfestes wird als Staffage benützt. Der Kandidat spricht in die Linse, meistens angespannt oder angestrengt, ringt manchmal nach Worten, oft versteht man sie akustisch kaum, die Bilder sind unter- oder überbelichtet, verwackelt… Kurz und anständig: das Potenzial wird nicht ganz ausgeschöpft.

Viele dieser Vlogs findet man auf dem Videoportal von „YouTube“ wieder. Nach dem Motto „nützts nüt, so schads nüt“ schalten die Kandidierenden ihre Beiträge dort auf. Die Bedeutung lässt sich mit einer simplen Zahl festmachen. Bei Kandidat Hugo Hugentobler steht beispielsweise „Views: 94“. Der Beitrag wurde also 94 Mal angeklickt. Die „YouTube”-Filmchen, wie sie inzwischen despektierlich genannt werden, sind schlicht langweilig. Teilweise haben sie unfreiwillig Unterhaltungswert oder leben von der Situationskomik. Bei vielen versteht man schlicht nichts. Dass sie neue Wählersegmente erschliessen, dürfen wir bezweifeln.

Es gibt allerdings auch Ausnahmen: Mir gefällt der “20-Sekünder” der Berner Nationalrätin Margret Kiener Nellen. Gut gemacht ist auch der Imagefilm der FDP-Frauen. In beiden Fällen führten Profis Regie, das merkt man sofort. Es gibt eine Story, Schnitte, Hintergrundmusik, die passt usw. In beiden Kurzfilmen wird auf Statements verzichtet. Das ist klug, weil sich die meisten Computer nicht zum Abspielen von Ton eignen. Zudem haben Bilder eine viel stärkere Aussagekraft.

Mark Balsiger

Vom Schneemann und der Amerikanisierung

Der Videoclip ging letzte Woche um die Welt: Ein Schneemann fragte, ob sein Sohn trotz der Folgen des Klimawandels überleben werde. Die letzte Einstellung ist herzerweichend: Schneemanns Junior blickt mit grossen Kulleraugen in die Kamera. Millionen von Menschen haben diese Seuqenz inzwischen gesehen. Achtzehn Sekunden, die berühren.

Das Internet- und Video-Portal „Youtube“ machte die Verbreitung dieses Clips zum Kinderspiel. Er wurde an der ersten digitalen Debatte mit den demokratischen Präsidentschaftsanwärtern gezeigt. Hillary Clinton und ihre sieben Konkurrenten mussten des Schneemanns Frage live beantworten. Der Nachrichtensender CNN übertrug die Debatte mit den eingespielten Video-Fragen.

Das ist eine gelungene Form von Bürgerjournalismus, weil er Desinteressierte weckt. Tausende von Amerikanern nahmen die Herausforderung an, selber einen Videoclip zu produzieren, die originellsten wurden ausgewählt. Keine Frage, die erste digitale Debatte stellt eine Innovation im Wahlkampf dar. Und wie immer in den USA, ist eine Mischung aus Inhalten und Emotionen, Show und cleverem Marketing. Für uns republikanisch-zurückhaltende Schweizer ist diese Art Wahlkampf überzeichnet und fremd. Deswegen bedienen wir uns, wie bei jeder Innovation, schnell dem negativ besetzten Etikett „Amerikanisierung“ und lehnen sie ab.

Auch bei uns hat sich der Wahlkampf in den letzten 20 Jahren stark verändert. Früher reichten Versammlungen im „Bären“, die dauerhafte Beachtung der Parteiblätter und Plakate, um die eigene Klientel wachzurütteln. Inzwischen ist der Wahlkampf zu einer vielschichtigen Aufgabe geworden. Die Parteibindungen haben sich stark gelöst, der Wechselwähler wird umschwärmt, Verbände, Non-Profit-Organisationen und Bürgerbewegungen nehmen immer mehr an Bedeutung zu.

Die entscheidende Macht aber haben die Medien, die untereinander in einem gnadenlosen Verdrängungskampf stehen, übernommen. Sie diktieren das Tempo, sie diktieren, was Thema ist, sie diktieren, wer auftreten darf und wer totgeschwiegen wird. Wer sich den Gesetzen der so genannten Mediokratie anpasst, hat eine Chance. Die mehr als 400 Nationalrats-Kandidierenden des Kantons Bern können sich noch bis zum Wahltermin vom 21. Oktober in dieser Disziplin üben.

Mark Balsiger

P.S.  Dieser Beitrag wurde auf Anfrage des “Bieler Tagblatt” geschrieben und dort in der Ausgabe vom 3. August 2007 publiziert.